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=========================================================================== Erneuerung des Denkens durch Dialog. Anregungen Eugen Rosen-stock-Huessys im Briefwechsel mit Franz Rosenzweig, in: Angelica Bäumer, Michael Benedikt (Hg.), Dialogdenken-Gesellschaftsethik. Wider die Allgegenwärtige Gewalt gesellschaftli-cher Vereinnah-mung, Passagen Verlag Wien 1991, S. 111-121
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ERNEUERUNG DES DENKENS DURCH DIALOG
Anregungen Eugen Rosenstock-Huessys im Brief-wechsel
mit Franz Rosenzweig
1. Daß Eugen Rosenstock-Huessy im Zusammenhang mit der Katastrophe des 1. Weltkrieges die These von dem Versagen und sogar von der "Mitschuld" der offiziellen Wissenschaft am Kriege formuliert hat, hängt weder mit einer apokalyptischer Vision des Untergangs der Kultur a la Nietzsche oder Dostojewski, noch mit einer These vom schicksalshaften Untergang des Abendlandes a la Spengler zusammen, sondern sie entspringt der Einsicht in die Verantwortung des wissenschaftlichen Denkens - oder genauer gesagt: in die Verantwortung der Wissenschaftler - für die Untergangserscheinungen und ihre gesellschaftlichen Folgen, darunter auch für den Krieg. Die Konsequenzen dieser Einsicht in die Verantwortung des wissenschaftlichen Denkens für die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens haben es bewirkt, daß er den dienstbaren Charakter des wissenschaftlichen Denkens für sich entdeckte. Fachmann und Genius sollten vor dem "dienstbaren Geist" weichen2.

Auch dem Philosophiehistoriker Franz Rosenzweig bestätigte die Erfahrung des Krieges, daß das wissenschaftliche Erkennen "kein 'Selbstzweck"3 mehr sein kann, sondern nur eine der menschlichen Tätigkeiten, deren Erzeugnisse die Unterordnung der Menschen nicht beanspruchen können.
Für beide Denker war der rationalistische Glaube an die Herrschaft der Vernunft in der Geschichte unter dem Einsturz der darauf erbauten Welt endgültig begraben. Die geistigen Grundlagen dieser Welt haben sich nicht bewährt. Die vollkommene Erneuerung des wissenschaftlichen Geistes, der im Dienste einer menschenwürdigen Welt eingespannt werden sollte, war die erkannte Aufgabe.
2. Wenn wir dieses Selbstverständnis beider Denker von unserem Zeit- und Standpunkt aus betrachten, dann verschärft sich einerseits die Frage nach der Mitschuld der Ideen an den damals unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg noch unvorstellbaren Katastrophen und andererseits die Enttäuschung darüber, daß das Postulat einer Erneuerung des Denkens nicht erfüllt wurde. Wie sehr verdrängt ist jene Frage und wie aktuell dieses Postulat, zeigt deutlich die gegenwärtige Diskussion um den Versuch, das Denken eines Heideggers mit seinem Einsatz im Sinne der Weltanschauung des Nationalsozialismus' in Beziehung zu bringen. Ähnlich wie einst der Versuch E. Rosenstock-Huessys, an die "Haftpflicht" der Schule für die Ideen, die sie lehrte, zu erinnern4, löst der "Fall Heidegger" nicht nur die sachliche Diskussion aus. Die getrennte Buchführung für Denken und Tun scheint immer noch die Regel zu sein. Wir sehen deutlicher denn je, daß die Forderung nach der Hingabe der menschlichen Freiheit an die Produkte des Geistes die ideologische Tyrannei vorbereitet, herbeigeführt und - nicht selten - gerechtfertigt hat. Die Hoffnungen, die in manchen modernen Ideologien gelegt worden sind, wurden bitter enttäuscht. Die Unfähigkeit der Wissenschaft, selbstkritisch die Verselbständigung der Erzeugnisse des Geistes wirksam zu verhindern, gibt zum Nachdenken.
Eine erbarmungslose Analyse der Komplizenschaft der Philosophie an der Entstehung und Rechtfertigung der totalitären Gesellschaftsformen, wie die von Karl R. Popper5, hat immer noch den Seltenheitswert. Dennoch selbst Poppers Vertrauen auf die kritische Vernunft als Alternative zur Gewalt und zur Angst, unterstreicht nur die Wichtigkeit der Frage nach den Bedingungen, unter denen die Vernunft diese Aufgabe erfüllen kann. Dasselbe muß gesagt werden von Joseph M. Bocheñskis Hoffnung, die vom Glauben an die Vernunft getragene Philosophie - "und sie allein" - könne uns "vor Wahnsinn warnen, der so oft seitens eines falschen Denkens unter der vermeinten Autorität der Wissenschaft droht"6. Denn die kritische Haltung der Vernunft kann durch bloße Beteuerung oder durch die Logik alleine nicht gesichert werden. Die Tragödie der wiederholten Massenvernichtung innerhalb dieses Jahrhunderts stellt an diese Sicherung sehr hohe Anforderungen.
Diesen Anforderungen versuchte sich Emmanuel Lévinas zu stellen, indem er für das philosophische Denken aus Shoah Konsequenzen gezogen hat. Für ihn ist die Wahrheit einer Philosophie daran zu bemessen, ob sie die Vernichtungslager und - fügen wir hinzu -Gulags zu verhindern lehrt. Dazu ist aber laut Lévinas erforderlich, "daß ein tiefes Band Vernunft, Sprache und Moral verbindet"7. Dieses Band, das die Beteiligung der Vernunft an der Gewalt moralisch unmöglich macht, kommt ursprünglich im Gespräch zutage. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht erfährt die Vernunft, daß ihre Autonomie immer schon unter dem Anspruch des "du wirst nicht töten" steht und daß sie sich wesentlich im Dienste der Verständigung verwirklicht. Die Tatsache der Beteiligung der Vernunft am dialogischen Geschehen der Sprache bedeutet für das Bewußtsein die Erfahrung der Unmöglichkeit, "die Wirklichkeit so zu beherrschen, wie eine wilde Vegetation, die alles Umliegende entweder aufzehrt oder zerstört oder fängt"8. Der Gebrauch dieser Rationalität, die durch das Wort an die ethische Verantwortung für die Gestalt der menschlichen Gesellschaft unauflöslich gebunden ist, hat sich grundsätzlich nach der moralischen Ordnung zu richten. Denn mit dem Wort, dem sie dient, gehört sie zunächst nicht der theoretischen, sondern der ethischen Ordnung an. Die Bedingung der allerseits beanspruchten kritischen Rationalität ist also ethischer Art. Mit dem Gebot "du wirst nicht töten" ist nicht bloß eine Verhaltensregel formuliert, sondern das "Prinzip"9 entdeckt, an dem sich das wissenschaftliche Denken zu orientieren hat.
3. Ohne den direkten Einfluß des Briefwechsels zwischen E. Rosenstock-Huessy und F. Rosenzweig auf E. Lévinas behaupten zu wollen10, sehe ich in den Gedankengängen dieses letzteren einen Schritt in jene Richtung, die der Briefwechsel aus dem dritten Jahre des Weltkrieges11 zusammen mit dem "Sprachbrief", der in diesen Zusammenhang sowohl inhaltlich als auch zeitlich gehört12, vorgezeichnet hat.
Die zahlreichen Veröffentlichungen13 haben vor allem die Bedeutung dieses Briefwechsels für den jüdisch-christlichen Dialog untersucht. Nicht das Geringste von dieser Bedeutung soll hier bestritten, sondern nur eine andere Perspektive vorgeschlagen werden. Der schonungslose theologische Dialog der beiden Freunde über die Stellung des Judentums und des Christentums zueinander und über die gegenwärtige und zukünftige Rolle der beiden religiösen Gemeinschaften ist ja ein wichtiges Moment einer existentiellen Wandlung, die sich als Suche nach einer neuen Stellung der Vernunft im menschlichen Leben konkretisierte. Denn eine rein referierende, alles relativierende und dennoch die Alleinherrschaft beanspruchende Rationalität hat die Sprachkraft der Menschen entweder durch Begriffe geknechtet oder den Schlagworten der Politik ausgeliefert14. Das Schlachtfeld hat die These von der Vernünftigkeit der Geschichte widerlegt.
Diese Einordnung des Briefwechsels in den Zusammenhang einer durch die wissenschafts- und gesellschaftskritische Problematik bestimmten, in mehreren Akten des partnerschaftlichen Dialogs sich vollziehenden existentiellen Wandlung entspricht dem Selbstverständnis der beiden Briefpartner, wobei die entscheidende Einflußnahme Rosenstocks auf die Entwicklung Rosenzweigs seit den Sommergesprächen von 1913 wenigstens erwähnt werden muß.
Da diese Einordnung des Briefwechsels weitgehend übersehen worden ist, hat sich Rosenstock nach über fünfzig Jahren entschlossen, "die Tatsachen in eine etwas bessere Perspektive zu rücken":

"Von ihren wertvollen Ausführungen über Christentum und Judentum einmal ganz abgesehen, bedeuten diese Briefe in einem Punkt ein wirkliches Ereignis: Hier wurde der Objektivitätsschwindel der akademischen Zunft in seiner ganzen tödlichen Wirkung auf die westliche Welt erkannt. (...) Ein Jude und ein Christ legten für einen Augenblick ihre unauflösbaren Antithesen beiseite und vereinigten sich gegen alle selbsternannten "Humanisten" jeglicher Couleur und Kategorie. In ihrer Feindschaft gegen alle Götzen des Relativismus (...), gegen "Objektivität" (...), abstrakte und namenlose Statistiken (...), fanden der Jude und der Christ eine gemeinsame Aufgabe."15
Für diese gemeinsame "Frontstellung" hat Rosenstock seinen Freund gewonnen, indem er ihn dazu bewogen hat, seinen Relativismus aufzugeben. Diese Gemeinsamkeit, die den Hintergrund des Briefwechsels ausmacht, ist oft übersehen worden, weil sie schon in den wenig bekannten Gesprächen des Jahres 191316 zustande kam. Das, was zunächst als eine Gemeinsamkeit in der Antithese zum Zeitgeist ausgesehen hat, erwies sich während des Briefwechsels als eine Gemeinsamkeit des angestrebten Zieles, dem die Erneuerung des Denkens dienen sollte. Das Ziel war die Befreiung der wirklichen Menschen zur Teilnahme an dem gesellschaftlichen Drama mit eigener Stimme:
"Sie [Rosenstock und Rosenzweig - Anm. d. Verf.] kamen darin überein, daß wirkliche Menschen Juden oder Christen sein, aber nicht die Rollen von "Benjamin Franklin" oder "Thomas Paine" spielen können, (...), weil es keinen "common sense", keinen allgemein gültigen gesunden Menschenverstand, jedenfalls keinen solchen im Sinne von guten Überzeugungen, die allen gemeinsam ("common") sind, geben kann, wo Menschen damit zufrieden sind, bloße Nummern zu sein, die mit Verallgemeinerungen und Platitüden Handel treiben."17
Der Jude Rosenzweig und der Christ Rosenstock haben den Gehorsam gegenüber den ihnen zugewiesenen Rollen verweigert und wagten sich in das freie Feld der Aussprache, nicht um sich über die Wahrheit zu belehren, sondern um ihr Beschränktsein durch die Wahrheit in die gelebte Verantwortung umzusetzen. Der theologische Gegensatz zwischen Jud und Christ kann nicht mehr als Ausdruck der Dialektik zweier "Ismen" durch bloße Anerkennung neutralisiert werden. Er zwingt beide Briefpartner zum gegenseitigen Ernstnehmen, so daß die tödliche "Gleichgültigkeit"18 vor der gemeinsamen Verantwortung weichen muß.
4. Am Anfang des Briefwechsels gibt Rosenzweig den Ton an. Gleich zu Beginn des brieflichen Dialogs stellt sich heraus, daß Rosenzweig nicht mehr für eine Diskussion über die Form des philosophischen Systems zu gewinnen ist. Auf Rosenstocks herausfordernde Nachricht von dem "erlösenden Schritt ins System" und von seiner kalendarischen Form, trotz der Betonung seiner antiidealistischen Ausrichtung19, reagierte Rosenzweig mit Skepsis:
"(...) Weil ich Sie überhaupt als "Philosophen" genommen habe, deshalb ist mir Ihr Übergang zum schriftlichen System nicht so wichtig. Sie waren es schon, und werden es in dem Sinne, in dem Sie jetzt meinen [d. h. als Systematiker - Anm. d. Verf.], nie sein. Es gibt keine Kollegen derer von 1800 mehr, kann und darf keine geben. Hegel hat die Wahrheit gesprochen, als er (implicite) sagte, was er (explicite) wußte: daß er das Ende der Philosophie sei. (...) Das durch die Tat Thales aufgeworfene Problem "Philosophie überhaupt" ist da zur Ruhe gekommen und der an dies Problem gekettete Mensch, der Philosoph, überflüssig (Professor) geworden."20
Rosenzweig ist an einem Vergleich der respektiven theoretischen Positionen nicht mehr interessiert. Er versteht sich selbst "endgültig nicht als -loge, auch nicht als -soph" und möchte nicht als solcher angesprochen werden. Er versteht sich nun als ein Mensch, "der keine Pläne, nur noch Probleme hat" und der mehr an einer wirklichen als an einer beschriebenen Erfahrung in der Welt interessiert ist.21 Deshalb quittiert er die Skizze eines Systems der Philosophie in Kalenderform mit folgender Bemerkung: "Das geht. Obwohl es nicht gedacht werden muß". Die Fragen, die er nun hat, sind nicht mehr Probleme, die man haben muß, sondern solche, die ihm das Leben aufzwingt. An Stelle des neutralen "es muß" des theoretischen Menschen ist für Rosenzweig das "ich muß" des ganz wirklichen Menschen getreten, dessen Verantwortung für das Denken ganz persönlich ist.22
Rosenstock, dem die Entwicklung des Freundes seit 1913 zum Zeitpunkt des Briefwechsels im wesentlichen noch unbekannt blieb, sieht nun, daß die Gemeinsamkeit mit ihm keine werdende mehr war. Er ergreift jetzt die Initiative, um den Sinn dieses persönlichen "ich muß" gegen den seit der Aufklärung geläufigen Begriff der Privatsache abzugrenzen. Mit dem Denken, das ich denken muß, ist es ähnlich wie mit der Liebe, die jeder für sich haben muß, um sie mit anderen zusammen zu haben. Gemeint ist also nicht die Privatisierung im Sinne des Satzes "Religion ist Privatsache". Da ist etwas abgekapseltes, für sich schamhaft zu behaltendes gemeint, also etwas, was man eigentlich mit anderen nicht gemeinsam haben kann. Und deshalb ist der Einzelne durch den Zusatz 'Privat' eher eingezwängt, statt freigesetzt zu werden.
Die scheinbar aufgeklärte Privatisierung "depriviert den Einzelnen so, daß er sein arcanum weder pflegt noch betritt. Eines Tages hat er es gar nicht mehr. Wie die Gewissensfreiheit statt zum stürmischen Wettlauf der Gewissen zur Freiheit vom Gewissen, so führt die private Religion zur Privation der Religion (...). Also das heut Private, - scheinbar Befreite, wirklich Gelähmte -, ist zugleich das Entscheidende, das--Individuelle, d. h. der Sinn des diesseitigen Lebens, in dem ja doch und noch die Einzelnen Sitz und Stimme haben."23
Das "Duell"24 zwischen Jud und Christ, das jetzt mit voller Kraft ansetzt, ist ein Duell aus dem Bewußtsein des eigenen Besitzes heraus um das Gemeinsame. Das Bewußtsein des eigenen Besitzes - anders als die 'aufgeklärte' Privatisierung - isoliert nicht. Es zwingt zum eigenen Wort, das vor die Wahrheit dringt. Die Schule mit ihren "wort- und wirklichkeitslosen Abstraktionen"25 läßt sich durch den Krieg nicht beeindruken26.
Es wundert nicht, daß der Dialog der Freunde, der mit dem Objektivitätsbegriff der Schule nicht viel zu tun hat, durch wissenschaftskritische Überlegungen begleitet wird. Die Intensität des Duells und die Festigkeit des Offenbarungsglaubens als der gemeinsamen Grundlage machten eine grundsätzliche Reflexion über die Stellung und die Methode des Denkens erforderlich. Ausgelöst wurde sie durch Rosenzweig, der nach dem "Verhältnis von Natur und Offenbarung" und nach der Bedeutung der Sprache gefragt hat27. Obwohl diese Fragen in einer, von dem ganzen Still des Briefwechsels verschiedenen, akademischen Form ausgedrückt worden sind, die Rosenstock verblüfft hat, gehören sie zu jenen durch wirkliche Zweifel geweckten Fragen28. Die Antwort Rosenstocks blieb dem Geist und dem Stil des Dialogs treu. Sie beruft sich zunächst auf eigene Denkerfahrung:
"Mir fällt irgend etwas ein, oder irgend etwas auf. Das ist dann ein Stein des Anstoßes für die Denkerzelle. (...) Ich denke nicht gleichzeitig, sondern aus Bedürfnis und mit meinem Bedürfnis nacheinander. Und diese Zeitlichkeit meines Denkens und diese Zeitlichkeit meines Denkens ist ja das A und O, von dem aus ich alles wieder anfasse. Die Sprache bildet diesen Processus auch für den philosophisch Verseuchten noch anschaulich ab."29
Mit der "Zeitlichkeit" des Denkens hängt engstens auch sein Raumbezug zusammen. Wer denkt, denkt letzten Endes, weil es sich ihm dort, wo er steht, etwas aufdrängt oder jemand sich ihm, bzw. er sich jemandem verständlich machen will. Deshalb weiß er seine Fragen und Antworten erst dann, wann er sie wissen muß. Sein Denken ist - wie Rosenstock sich im "Sprachbrief" ausdrückt - "'Mitweg' der Ereignisse"30 und ist durch die zeitlose Idee nicht beherrscht, sondern steht im Dienste der raum- und zeitgebundenen Verantwortung für das Wort, die sich aus diesen Ereignissen ergibt. Dieses Denken ist 'zeitbedingt', weil es an das Geschehen der Sprache gebunden ist. Sein Verhältnis zur Sprache ist aber nicht das der bloßen Abhängigkeit. Es ist "ein dauerndes Wechselverhältnis von Geben und Nehmen". Das "Selbstvertrauen des Verstandes" ist von seinem "Anvertrauen an die Sprache" nicht zu trennen. Das wissenschaftliche Denken lebt vom Hören genauso, wie es sich im Sprechen äußert.
Im Grunde genommen ist aber dieses Denken orientierungslos und stets der Versuchung ausgeliefert, die Stellung des «natürlichen Verstandes» für "erkennende Mitte" und "Nabel der Welt" zu halten. Der neuzeitliche Autonomiegedanke ist für Rosenstock Ausdruck dieser Orientierungslosigkeit. Der "natürliche Verstand", statt seine Unfähigkeit, sich selbst zu orientieren, anzuerkennen und seinen raum- und zeitbedingten Standpunkt mit der Verantwortung für das vernommene und gesprochene Wort anzunehmen, hat eine scheinbar unangreifbare Stellung für sich in Anspruch genommen, indem er sich auf zeitlose Begriffe "wie auf Betonblöcke" zurückgezogen hat. "Die Tatsache der Wissenschaft hingegen zeugt nur für eine gewisse Autonomie des Ehepaares Sprache und Verstand." Die Orientierungsbedürftigkeit des natürlichen Geistes kann nach Rosenstock nur durch ein festes "Oben" in dem Raum und durch "die Zeitrechnung ab anno Domini" gesichert werden. Die Raum- und Zeitgebundenheit des Denkens, die mit der Sprachgebundenheit zusammenfällt, verdichtet sich damit zu jenem "Vermögen in uns, das Offenbarung an uns, in uns und für uns möglich macht".31
Rosenstocks Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Offenbarung ist also auf die Klärung des Verhältnisses von "natürlichem Verstand" und Offenbarung hinausgelaufen. Die Offenbarung ist Orientierung des natürlichen Geistes, der sich um seine Bedingtheit nicht täuscht und der sich vor seiner Verantwortung in dieser Welt in die sichere Distanz der reinen Abstraktion nicht flüchtet. Das Vertrauen zur Sprache, die uns zwar "ihre Gesetze, ihre Data, unseren Begriffsjahrgang" vorschreibt32, bedeutet keineswegs eine unkritische Hingabe an den Zeitgeist. Es bildet vielmehr die Grundlage eines Denkens, das sich nicht im "luftleeren Raum der Begriffe" an sein eigenes Geschöpf, d. h. an das systemerzeugte, künstliche "Sprach- und Geistgut" klammert33, sondern es wagt, die Überlieferung in die Sprache der Zeit aber auch gegen sie für die Zukunft zu über-tragen34, so daß es der Mitteilung der Wahrheit und ihrer Bewährung in Gegenwart und Zukunft und nicht der bloßen Bewahrung der Lehre dient.
5. Die Ausführungen Rosenstocks fanden in Rosenzweig nicht nur einen verständigen Leser. Er empfing sie als einen mächtigen Anstoß zum Weiterdenken. Es ist ja nicht meine Aufgabe an dieser Stelle, dem Einfluß dieses Anstoßes auf Rosenzweig näher nachzugehen. Es ist aber notwendig zu betonen, daß der Einfluß Rosenstocks auf das Denken seiner Zeit nicht zustande kam. Freilich, meine ich nicht den Einfluß der Briefe, die ja bis zur Erstveröffentlichung 1935 unbekannt waren, sondern vor allem den des "Sprachbriefes" und des Aufsatzes "Der Selbstmord Europas", wo die hier dargestellten Ansätze in geordneter Form entwickelt worden sind. Sein Einfluß hätte auch in der Philosophie ähnliche Früchte des Widerstands gegen die Barbarei bringen können, wie es die schlesischen Arbeitslager mit dem "Kreisauer Kreis" hervorgebracht haben. Der ganze Denkansatz Rosenstocks legt nämlich jenes Band zwischen Vernunft, Sprache und Verantwortung offen zutage, von dem einige Jahrzehnte später E. Lévinas zurecht meint, daß es die Beteiligung der Wissenschaft an der Gewaltanwendung moralisch unmöglich macht. So gesehen, sind die Briefe, die in der Mitte der Krise entstanden sind, keine "Klänge de profundis", wie Richard A. Underwood in seiner Besprechung der englischen Ausgabe des Briefwechsels meint35. Sie sind vielmehr Ausdruck der Hoffnung und - trotz der Wirkungslosigkeit - ein konkreter Beitrag zur Erneuerung des wissenschaftlichen Denkens in unserem Jahrhundert, dessen Geburtshelfer E. Rosenstock ohne eigene Schuld nicht geworden ist.



=========================================================================== Die Zeit der Sprache - die Sprache der Zeit. Zum Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys. Orientierung [Zürich] 1/1990, 2-6 ===========================================================================
DIE ZEIT DER SPRACHE - DIE SPRACHE DER ZEIT
Zum Sprachdenken Eugen Rosenstock-Huessys
1. Eugen Rosenstock-Huessy gehört zusammen mit einigen anderen Zeitgenossen - wie z. B. der große Pädagoge und Geschichtsphilosoph Friedrich Wilhelm Foerster und der jüdische Denker Franz Rosenzweig - zu den wenigen Gelehrten, die in der Zeit um den 1. Weltkrieg und danach Worte gefunden haben, die nicht die vergangene, durch die Katastrophe des Weltkrieges kompromittierte Zeit mit ihren Ideen und Institutionen wieder zu beleben versuchten, sondern eine Erneuerung anstrebten. Diese angestrebte Erneuerung kann als Umkehr im starken, biblischen Sinne des Wortes bezeichnet werden. Es waren Worte, die die Ereignisse ihre eigene, unverbrauchte Sprache sprechen lassen wollten. Diese Worte öffneten leider nur wenige Ohren.
Foersters mutige Stimme gegen den Kult der Staatsräson und gegen den Nationalismus, sein unbedingtes und dennoch - im Unterschied zum abstrakten Pazifismus - nicht naives Eintreten für die Erziehung zum Frieden konnte sich, trotz der geschichtlichen Entwicklung, die ihm recht gegeben hat und trotz der Popularität, die er in Deutschland und im Ausland genoß, nicht durchsetzen.1 Wer nach dem Verlust des Krieges 1918 weiterhin den Ton angegeben hatte, waren leider nicht Leute wie Eugen Rosenstock-Huessy, sondern diejenigen Gelehrten, die den Krieg verharmlost oder verherrlicht haben und dazu beigetragen haben, daß Foerster bald nach dem Kriege (schon im Juli 1922) Deutschland verlassen mußte, um sein Leben zu retten. In einer Zeit, die eine klare Sprache brauchte, wurde eine wegweisende Stimme neutralisiert.
Der Versuch des jüdischen Philosophen, Franz Rosenzweig, das philosophische Denken durch die Abschaffung der "getrennten Buchführung von Glaube und Wissen"2 zu erneuern, wurde zwar nicht angegriffen, sondern nur ignoriert. Dies lag nicht nur an der Schwierigkeit, sein kompliziertes Hauptwerk - "Den Stern der Erlösung" - zu verstehen, sondern auch an der Unfähigkeit der Philosophieprofessoren das Versagen der Ismen anzuerkennen, die den Bau dieser Welt der Gegensätze gerechtfertigt haben. Die Sprache der Ereignisse hatte gegen die Geistessprache der Philosophie noch keine Chance. Trotz des Zusammenbruchs einer Welt haben die meisten Philosophie- und leider auch Theologieprofessoren ihre Sprachkraft weiterhin der Dialektik jener Ideen verschrieben, die auf dem Schlachtfeld ihre Fragwürdigkeit und Schädlichkeit gezeigt haben.

2. Ich beginne meine Ausführungen über das Sprachdenken Rosenstock-Huessys mit diesem kurzen Hinweis auf das Schicksal zweier Sprecher, um von vornherein die Ohnmacht aber auch die Fruchtbarkeit seiner Sprachlehre anzudeuten, die in der Kritik der offiziellen Wissenschaft und Kultur einmündete. Die Sprache jener Zeit war anders, auf daß die aus den Ereignissen entsprungenen Worte in breiteren Kreisen wirksam werden könnten. Foersters erzwungene Flucht und Rosenstocks dreifache Arbeitslosigkeit, seine Probleme mit den Verlegern, schließlich Auswanderung in die USA, wo er, übrigens, auch Schwierigkeiten mit den Behörden und mit der Universität hatte, unterstreichen überdeutlich die Ohnmacht einer christlich geprägten Lehre in einer Zeit, in der das Christentum nur noch beschränkt Kultur und Leben zu beeinflussen vermochte.
Und trotzdem müssen wir sagen, daß Seine Worte, insofern sie Träger der von Mensch zu Mensch verantworteten Wahrheit waren und nicht ein schulmäßiger Befähigungsnachweis, einem neuen Denken den Weg gebahnt haben, das den Sprecher und Hörer wieder in seine Rechte gegen die Macht der angeblich «ewigen Ideen», einszusetzen versuchte. Der langsam wachsende Einfluß Rosenzweigs, der ohne den intensiven Dialog mit seinem Freund Eugen den "Stern" nie geschrieben hätte3, beweist auch philosophiegeschichtlich den bleibenden Wert eines Sprachansatzes, der aus der Erfahrung des "Sprechen-müssen" gegen die "Sprachlosigkeit" der Zeit entsprungen ist.

3. Wenn ich vom bleibenden Wert des Sprachansatzes Rosenstocks spreche, dann bedeutet das noch nicht, daß dieser Wert bemerkt, oder sogar anerkannt worden wäre. Rosenstock selbst war sich dessen bewußt, daß seine 1916 als Sprachbrief an Rosenzweig verfaßte, dann 1924 als "Angewandte Seelenkunde" veröffentlichte Schrift, die den "Schlüssel" seines Zugangs zu Wort und Sprache4 und seines Verständnisses der Rolle der Wissenschaft darstellt, trotz des Neudrucks 19635 "total unbekannt geblieben ist"6. Rohrbachs sorgfältige Monographie7 aus dem Jahre 1973 hat an diesem Zustand nichts ändern können. So z. B. übersehen fast alle Arbeiten zur Philosophie Franz Rosenzweigs - sowohl vor 1973 als auch nach diesem Datum - die Bedeutung des «Sprachbriefes» für das Sprachdenken Rosenzweigs8. Sogar die bislang vollständigste Geschichte des dialogischen Denkens «Die Begegnungsphilosphie» von Josef Böckenhoff weiß die Stellung Rosenstock-Huessys nicht zu würdigen. Er ist darin nur nebenbei erwähnt9 und das trotz der früheren, genauen Hinweise im Martin Bubers Aufsatz "Zur Geschichte des dialogischen Prinzips" aus dem Jahre 195410.
Die fehlende Auseinandersetzung der Universitätsphilosophie mit der Sprachlehre Rosenstock-Huessys hängt u. a. damit zusammen, daß sie von der Feststellung des Versagens der offizielen Wissenschaft, insbesondere der Philosophie, ausgeht. Der 1. Weltkrieg hat die Maßlosigkeit dieses Versagens nur bloßgelegt.
Dies ist für Rosenstock-Huessy keineswegs eine späte Weisheit, aus der Perspektive der zwei Weltkriege. Wer, wie Rosenstock schon 1906 aus seiner "Universitätsabgötterei" erwachte, indem er die "blinde 'Renaissance'-Begeisterung" und den darin versteckten "Gewaltkultus aller Art" abzulegen wußte; wer wie Rosenstock 1910 bis 1912 die Überzeugung gewann, daß es notwendig ist, dem Denken ein "Element des Dienstes" zurückzuerobern11, der konnte, als der Krieg ausbrach, die Mitverantwortung der Wissenschaft am Kriege erkennen und aussprechen. In diesem Lichte erscheint das Fehlen der Auseinandersetzung mit Rosenstocks Sprachdenken als Verdrängung einer unbequemen Stimme. Er hat das mit seinem Ruf bezahlt, so daß man heute noch den Eigenwert seines Denkens weitgehend ignoriert und ihn für "minor inter minores" hält. Diese Verdrängung bestätigt aber zugleich, daß Rosenstock Recht hatte, wenn er diagnostizierte, daß Begriffe und Abstraktionen der zeitgenössischen Wissenschaft - vor allem der Philosophie - "eine feige Lebensanschauung" ergeben12. Wissenschaft und stille, im Verborgenen betätigte Forschung waren für viele Gelehrten wie eine Rettung und Versteck vor den Ereignissen, wie eine Rechtfertigung und Beruhigung angesichts der Pflicht zu reden, die diese Ereignisse forderten.

4. Die Sprache der Wissenschaft war - laut Rosenstock - dem gesellschaftlichen Drama nicht gewachsen. Zu viele Vertreter der Wissenschaft haben die Zeit zum Sprechen nicht erkannt. Sie begünstigten die Unterordnung des Volkes - nicht nur in Deutschland - dem Befehl des Staates, als ob dieser Befehl ein Recht wäre. Der Grund für die Verführung durch Gewalt und durch die ihn rechtfertigenden Ideologien war auch durch die sich von der historischen Wirklichkeit distanzierende Wissenschaft vorbereitet.
Die vernunftgläubige Wissenschaft schien zu ignorieren, daß wir Menschen nie ganz vernünftig sind. Es wäre wenigstens eine Vereinfachung, zu glauben, daß unsere Ideen und Institutionen einfach Produkte der autonomen, reinen Einsicht der Vernunft seien und als solche einer Hingabe würdig. Zur Vernunft müssen wir erst gelangen. Das Mittel aber, das uns gegeben ist, um zur Vernunft zu gelangen, ist "nicht abstrakte, gelehrte Philosophie, sondern (...) Sprache und Aussprache und als Folge der Aussprache: Verständigung"13. Wenn aber die Sprachkraft der Menschen, d. h. diese Fähigkeit zur Vernunft zu gelangen, ja und nein zu sagen durch "Ismen", die sich für wissenschaftlich ausgeben, gelähmt ist; wenn die Sprache der Wissenschaft die Ereignisse ihre eigene Sprache nicht sprechen läßt, sondern diese umnebelt und so die heilvolle Erschütterung verhindert, dann ist das Volk in Gefahr, am Gebrüll eines Führers gefallen zu finden und zu Masse, Klasse oder zu "Parteivolk" erniedrigt zu werden.
Diese Rolle gespielt zu haben wirft Rosenstock-Huessy der offiziellen Wissenschaft vor. Das Ergebnis beschreibt er mit folgenden Worten:

"Das Volk in seinen beiden Teilen: Gebildeten und Proletariat ist sprachlich verderbt. Die Gebildeten werden von Begriffen geknechtet. Das Proletariat begriffsstutzig - im wörtlichsten Sinn -, sieht sich auf Schlagworte angewiesen. Wer spricht und hört noch?"14
5. Für dieses harte Urteil sprechen nach Rosenstock-Huessy die Erzeugnisse der Wissenschaft während des Krieges. Sie zeigen das, was Spenglers Buch "Untergang des Abendlandes" enthüllt - ohne eigentlich diese Absicht zu haben - nämlich, daß die europäische Wissenschaft ihre eigene Krankheit nicht merkt und der Erneuerung ausweicht. Sie tut das, indem sie ihre distanzierte, verobjektivierende Rede, die sich aus allem heraushält, ihren Zweifel an Gott und ihre Verharmlosung des Bösen als Sieg des Verstandes feiert. Seine 1919 geschriebene Worte verdienen zitiert zu werden:
"Wenn man (...) die Erzeugnisse der Wissenschaft während des Krieges mustert, wenn man geduldig sucht nach lebendigem Glauben in der Sprache des Wissens, so packt einem hoffnungslose Verzweiflung. Kein Fach hat mehr die Kraft, zwischen faul und frisch, tot und lebendig, gut und böse, wertvoll und wertlos an seinen Gegenständen zu unterscheiden. Alles, was ihnen vor die Augen kommt, wird gleichmütig erforscht; Mißgeburt oder Edelwuchs, das wissen sie nicht zu sagen. Alles ist Zufall, alles Scherbe, alles Stoff, zu dem sie ihr »Vielleicht« blinzeln. (...) Sie sitzen in ihrem historisch-idealistischen Schulkäfig und belehren uns über die Wahrheit, um uns ja nicht für beschränkt zu gelten durch die Wahrheit."15
Diese Wissenschaft hat es leicht, ihre Hände in Unschuld zu waschen, denn ihre Rede, um "wissenschaftlich" zu bleiben, muß ja nach dem geltenden Maßstab der Wissenschaftlichkeit rein referierend, distanziert sein. Für sie gilt als Anfang und Ideal des Sprechens der Aussagesatz: das ist... dies sind... Sie kann die ganze Grammatik und viele Namen, die die Sprache des Volkes kennt, nicht gelten lassen. Dazu müsste sie anerkennen, daß die Sprache "weiser" ist als der, der sie spricht, daß das Denken die Sprache zur Voraussetzung hat. Mit dieser schon 1912 gewonnenen und geäußerten Entdeckung16 hängt die Einsicht zusammen, daß die Sprache mehr ist als ein bloßes Mittel der Mitteilung von Gedanken, daß sie vielmehr Aufruf zum Denken und zur Tat ist, daß sie nicht aus dem einsamen Denken, sondern aus einer Gegenseitigkeit entspringt. Mit ihrer Fixierung auf das objektiv denkende, vom Geschehen zwischen Gott und Welt isolierte, sich von der Welt distanzierende Ich, kann das wissenschaftliche Denken wichtige und selbstverständliche "Anlagen des täglichen Seelenlebens", darunter ein "gesundes Glaubensleben" und andere Formen der "Eingewachsenheit der Seele in die Welt", nicht gelten lassen. Leugnet man diese Anlagen - wie das die aus dem 19. Jahrhundert stammende Wissenschaft tut - "so verwandelt sich alle Geschichte und Ordnung sofort in historischen Schutt und Wahn".17 Die Welt hört auf, gemeinsame Welt und Ort einer werdenden Gemeinsamkeit zu sein. Die Anwendung einer "verarmten"18, auf das Ich und die dritte Person zentrierten Grammatik liefert viele Bereiche des Sprechens und damit der existentiellen Erfahrung dem Verdacht der Sinnlosigkeit aus. Die wirklich gesprochene Sprache des Volkes bleibt also schutzlos sowohl vor den Eingriffen der Zensur als auch vor der ideologischen Manipulation. Durch die Anwendung der "verarmten Grammatik" sieht sich der sprechende Mensch vor Barrieren gestellt, die ihn einengen, wenn nicht sogar manche Sprachquelle in ihm zum Versiegen bringen. Er wagt nicht mehr bzw. kann nicht mehr, auf manche Stimmen zu hören; vor allem auf die Stimmen, die ihn neu be-stimmen könnten. Er fürchtet sich bzw. weiß nicht mehr, seine Innerlichkeit zu äußern. Die Totalitätsansprüche der Wissenschaft, der Politik und auch der Konfessionen können sich leicht durchsetzen. Das Ja und das Nein können leicht den Schlagworten zu Opfer fallen. Die Diagnose der Rolle der Wissenschaft ist schonungslos.

6. Der Staats- und der Rechtslehre wirft Rosenstock-Huessy vor, daß sie "das äußere Staats- und Rechtleben von der 'inneren' Gesinnung und Sittlichkeit" getrennt, dem Staat eine Vorrangstellung eingeräumt und dem Einzelnen nur die Pflichterfüllung gelassen hat. Die Befehle des Staates beanspruchen, Recht zu sein, obwohl sie keins sind. Die Moderne Staatsentwicklung, die auf der "Spaltung in Recht des Staats und Moral des Einzelnen" beruht, "macht das Volk zum Gegenstand der 'Statistik'", zum Objekt der Gesetzgebung, zum drittpersönlichen Individuum, an dem der Fürst mit seinem Beamtenstaat wie an einem Stück Natur herumexperimentierte". Daß auch das Gesetz, damit man sich darauf berufen kann, aus der Verständigung der frei sprechenden Menschen entspringen muß, ist da keine Selbstverständlichkeit. Als Produkt dieser Entwicklung "mußte dann der Aktivismus sein, der prinzipiell zur Unzeit, ungerufen (...) zur siegreichen Aktion schreitet", um alle auf den Weg zu bringen, den das Volk im Ganzen gehen sollte. "Das Geschlecht der Militärpolitiker, der zielbewußten Betriebsmenschen, der hohlbusigen Kommunistinen ist auf diesem Mist gewachsen. Der Frieden der Seele ist ihm unbekannt."19
Mit dieser Kritik scheint Rosenstock-Huessy, der habilitierte Rechtshistoriker, seine These von der "Mitschuld der Jurisprudenz am Kriege"20 näher zu erläutern.
Nicht weniger kritisch sieht Rosenstock die Rolle der Geschichtsschreibung oder - genauer gesagt - die Rolle der ihr zu Grunde liegenden Geschichtsauffassung:

"Die 'Ideengeschichte der reinen Geistphilosophie (...) von Hegel und die 'materialistische Geschichtsauffassung' von Marx haben Bürger und Arbeiter des 19. Jahrhunderts verbildet und vertheoretisiert und damit unser Volk mit in den Traum des Krieges von 1914 (...) und in den Abgrund seiner Weltniederlage gestürzt. Denn diese Geschichtsschreibung hat uns entseelt. Nach Materie zu greifen, macht haltlos; denn die 'Konjunktur' der Materie ist täglich eine andere. Nach Ideen zu handeln macht wandellos stur. Denn Ideen sind ewig. Diese beiden Arten Geschichtsauffassung haben das deutsche Volk daher gestaltlos gelassen."21
Diese Haltlosigkeit und Wandellosigkeit bedeutet, daß das Verhältnis zum wirklichen Geschehen der Geschichte, die sich als Dialog der Geschlechter ereignet, durch diese Geschichtsschreibung eher gebrochen als hergestellt wurde. Der Dialog der Geschichte erstarrt in begrifflichen Konstruktionen, in denen die Zeit zu Ende gedacht ist. Ein zukunftsträchtiges Wort hat sehr geringe Chance gehört, verstanden und wirksam zu werden. Der Wissenschaftler sieht von der Tatsache ab, selber ein Teil der Geschichte zu sein. Aus seinem Sprechen, das die Ereignisse einebnet und einordnet, ergibt sich deshalb nichts für die Zukunft. Er müßte beachten, daß es nicht seine Sache ist, zu entscheiden, ob ein Ereignis Epoche macht oder nicht, denn "die Epochen der Geschichte sprechen unmittelbar zu uns", weil das "Wortwerden" der Ereignisse selbst ein Teil des Geschehens ist.22 Durch die Sprache wird Zeit zur Geschichte. Über diese Sprache gilt es nachzudenken, ohne aber bei dem Nachdenken stehen zu bleiben. Es kann mein eigenes Wort nicht ersetzen. Erst der in das Wort zurückverwandelte Begriff kann Geltung gewinnen23

7. Dieser Diagnose der Rolle der Wissenschaft liegt die Kritik des "ungeschichtlichen Begreifens"24 der Philosophie und der von ihr praktizierten Rationalität zu Grunde. Philosophie ist zwar keine «Königin der Wissenschaften» mehr und dennoch ist das Selbstverständnis vor allem der Humanwissenschaften wesentlich von ihr geprägt. Gemeint ist jede Philosophie, die auf den antiken Grundsatz «erkenne dich selbst» verpflichtet ist, besonders aber die neuzeitliche Ausprägung dieses Grundsatzes im kartesianischen Ausspruch: «ich denke also bin ich», der für spätere Entwicklung maßgebend war. Ihre Voraussetzung ist, daß das Ich die wichtigste Person des Verbums sei und daß es sich beim Denken über sich selber entdeckt. Es entdeckt sich als der erste Gegenstand seines eigenen Denkens, d. h. als das Ich - namenlos und "bruderlos"25 - also eigentlich als ein Es. Auch das Du, das Er und Sie und das Es der Dinge gewinnen ihre Bedeutung erst als Gegenstände des denkenden Ich. Rosenstock-Huessy will die Möglichkeit eines vergägenständlichenden Denkens und einer ihm entsprechenden Sprache, die als Mittel zum Zweck benützt wird, nicht bestreiten. Er bestreitet nur, daß dabei das ganze "Seelenleben" und die dem Denken gebührende Stellung in ihm erfaßt werden. Gewiß, ist das gegenständliche Denken eine wichtige Anlage der "Seele", aber als eine unabhängige, reine, "transzendentale" Größe denkt es nicht. "Denkend ist der einzelne konkrete Mensch allein"26, den das Wort eines Bruders bzw. die Sehnsucht nach dem Bruder zur Antwort und zum eigenen Wort drängen.
Der Mensch ist laut Rosenstock-Huessy mehr als objektiv denkender Denker; er entdeckt sein Ich, er kommt zum Selbstbewußtsein nicht beim Über-sich-selber-Denken, sondern in der namentlichen Anrede, im Angesprochenwerden von außen.

"Das erste, was dem Kind, was jedem Menschen widerfährt, ist, daß es angeredet wird. (...) Es ist zuerst ein Du für ein mächtiges Außenwesen. (...) Das Hören, daß wir für andere da sind und etwas bedeuten, daß sie etwas von uns wollen, geht also dem Aussprechen dessen, daß wir selber sind und was wir selber sind, vorauf."27
Das Hören geht dem Begreifen voraus. Das Denken ist a posteriori und dient der Mitteilung, der Antwort. Es ist Nachdenken über das, was sich beim Sprechen ereignet. Dies zu mißachten, um die Autonomie des Denkens zu behaupten, führt zur Entartung nicht nur der Sprache der Philosophie. Der Gedanke von der Autonomie der ratio hat den gebildeten Hörer und Sprecher verbildet, den einfachen aber eingeschüchtert. Beiden hat dieser Rationalismus die Autonomie der oratio, also letzten endes die Autonomie der Umkehr, des Ja- und des Nein-Sagens verunmöglicht. Die Gebildeten wurden gegen die Erschütterung durch Ereignisse immunisiert, das Proletariat ist zur sprachlosen Masse bzw. Klasse geworden.
Der Vorwurf der Anwendung einer "verarmten Grammatik" trifft also vor allem die Philosophie, die sich auf die Schulgrammatik verlassen und deshalb das "Sprechenkönnen" mit dem "Sprechenmüssen" verwechselt hat. Dem bloßen "Sprechenkönnen" geht nach Rosenstock-Huessy das "Sprechenmüssen" voraus.
"Wo (...) das Muß der Sprache den Menschen antritt, da begreift er nicht mehr die Sprache als sein Mittel, um sich verständlich zu machen, sondern da wird er ergriffen, weil sich die Dinge ihm verständlich machen wollen, weil der Mensch sich begreiflich machen will oder weil ihm Gott vernehmlich werden will. (...) Sich begreiflich zu machen ist das Anliegen des Vollmenschen in uns, des 'Menschenmenschen'."
Sich jemandem sprechend begreiflich machen zu wollen, heißt nicht, etwas Fertiges, Vorgelagertes weiterzugeben. Die Sprache, die der "Menschenmensch" spricht, ist von der Sprache verschieden, die man spricht, um "beim Kellner etwas, 'was auf der Karte steht'" zu bestellen oder "'konventionelle' Höflichkeit" zu wechseln.
"Der Menschenmensch (...), den sein ursprünglicher Sprachstoff begreiflich machen will, der findet ein Lied der Liebe oder des Hasses, der Schwäche oder der Kraft, der Furcht oder der Freude."28
Wenn also das selbstbewußte Ich Antwort auf den Anruf ist, dann wird es deutlich, daß die Wahrheitssuche zugleich der Weg zur Erlösung ist. Der Grundsatz des Denkens, das der Priorität des Hörens, der Priorität des Du vor dem Ich gewachsen ist, das aus dem Leben in der zweiten Person entspringt und der Suche nach der erlösenden Wahrheit dient, lautet daher anders als der Grundsatz der Griechen und Descartes'. Rosenstock formuliert diesen Grundsatz in Anspielung auf Jes 43,1:
"Gott hat mich gerufen, darum bin ich. Man gibt mir einen eigenen Namen, darum bin ich."29
Ich werde angerufen, damit ich sprechen und denken kann; ich spreche und denke, indem ich die Stimmen, die mich be-stimmen, unterscheide, um sie zu bejahen oder zu verneinen und aus diesem verantworteten Denken und Sprechen zu handeln. Vor dieser Verantwortung flieht der Mensch, wenn er sich irgendeinem Ismus hingibt.

8. Mit der Formulierung des neuen Grundsatzes ist auch der Weg der Erneuerung des Menschen, Hörers und Sprechers, vorgezeichnet. Rosenstock-Huessy glaubt nicht an die Erneuerung des Menschen durch die Philosophie, weil er - im Unterschied zu seinem Freund F. Rosenzweig - an die Möglichkeit der Erneuerung der Philosophie nicht glaubt. Er versteht die Erneuerung als Umkehr im christlich-jüdischen Sinne. Die Entdeckung des neuen Grundsatzes bedeutete für ihn eine Abkehr von der rationalistischen Theologie und Philosophie "aus Gehorsam gegen den Weg des Heils". Das Unheil des Krieges war für ihn maßgebend; maßgebend nicht als ein im Lichte der Lehre zu behandelndes Thema, sondern als Ereignis und Erlebnis.30 Sein Denken wollte ein "Mitweg der Ereignisse"31 sein. Deshalb fragte er nicht, wie z. B. Karl Barth, nach der richtigen Lehre der Kirche, sondern danach, wie der Mensch glaubwürdig, wie das Wort wieder wirksam werden kann. Die Wiederherstellung der Lehre kann seines Erachtens niemandem die taubgewordenen Ohren öffnen und niemanden wieder erlebnisfähig werden lassen.32 Die Bewährung war notwendig, nämlich eine Bewährung, die neue Wege suchte; Wege, die nicht in die drei durch den 1. Weltkrieg gerichteten Räume - Staat, Kirche und Universität - zurückführten. Es mußte eine Bewährung sein, jenseits der Spaltung in Reformation und Gegenreformation.33
Dieser Geist lag allen seinen Nachkriegsaktivitäten zu Grunde, mit denen er für die Zukunft gearbeitet hat.
Wie sehr für die Zukunft?
So sehr, daß er es verdient hat, "Erzvater des Kreisauer Kreises"34 genannt zu werden. Dieser Geist bewährte sich wirklich.



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