Christen in Ost und West: gemeinsame Antworten gefragt, in: Projekt Europa, 31-32/1994, s. 41-48
(Die englische und französische Version desselben Aufsatzes in den entsprechenden Versionen derselben Zeitschrift)

CHRISTEN IN OST UND WEST:
GEMEINSAME ANTWORTEN GEFRAGT


1. Ausgangspunkte der gegenseitigen Wahrnehmung unter den Christen aus Ost und West
 

Im Zusammenhang mit den Diskussionen in der Gesellschaft Jesu über den Dienst an Glauben und Gerechtigkeit waren die Augen der Mitbrüder aus West-Europa und aus Amerika vor allem auf die Situation in Lateinamerika gerichtet, woher - ohne Zweifel - eine große Herausforderung an das Christentum ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Gleichzeitig aber - mit Ausnahme vielleicht der Bundesrepublik - blieb weitgehend unbeachtet, daß die Christen in den Ostblockstaaten über 40 Jahre lang einer ungeheuren Herausforderung ausgesetzt worden sind. Der Dienst ist dort gezwungenermassen zum Kampf um Glauben und elementare Gerechtigkeit geworden, gegen den Versuch, den (meistens) christlichen Völkern die marxistisch-leninistische Ideologie aufzuzwingen.(1) Überall in diesen Staaten erlebten die Christen einen unwahrscheinlich starken ideologisch gerechtfertigten Angriff, der mit allen Mitteln des totalitären Staates geführt wurde und dessen Folge u. a. auch die Zerstörung verschiedener Strukturen, darunter auch in unserem Orden, war. Die «Kampfmittel» der Christen waren meistens die geistigen Mittel der Glaubensüberlieferung und der Volksfrömmigkeit wie Rosenkranzgebet, Wallfahrten, Prozessionen usw. Wo das möglich war, dort hat sich eine Volkskirche gebildet; wo aber die Unterdrückung zu stark war, da sind vielerorts Untegrundstrukturen entstanden, wie z. B. Noviziate, Ausbildungsinstitute u. ä. All dies geschah bei fast völliger, über Jahrzehnte hinweg andauernder Abschirmung von der Außenwelt, die z. B. in Polen bis zum Anfang der siebziger Jahre und woanders zwanzig Jahre länger dauerte. Der Einsatz der Mitbrüder beschränkte sich nicht auf die Selbstverteidigung der Gläubigen. Es ist, wo es nur irgendwie möglich war, mehr oder weniger bewußt, immer ein Einsatz für die Rechte anderer Entrechteten (z. B. der Arbeiter, der Bauer u. ä.) gewesen. Der Glaube wurde gelebt unter den Bedingungen der zugefügten und ertragenen Ungerechtigkeit. Das hat einerseits zur Folge gehabt, daß zwischen Kirche und Gesellschaft, in der sie ihre Mission zu erfüllen hatte, eine Schicksalsgemeinschaft entstanden ist, die durch das erlittene Unrecht zusammengeschweißt wurde. Andererseits führte das zu einer relativ starken Konzentration auf die Erfahrung des Bösen, dem es zu widerstehen galt. Darüber hinaus veränderte das erlittene Unrecht die Empfindlichkeit vieler Menschen, so daß z. B. unter Umständen Probleme anderer sogar als unverständlich erscheinen können.

Was aber für die gegenseitige Wahrnehmung der Jesuiten aus Ost und West von großer Bedeutung zu sein scheint, ist der Umstand, daß die Bedingungen, unter denen der Glaube im Osten gelebt wurde, durch die westliche Öffentlichkeit entweder politisch manipuliert (kalter Krieg!) oder aber (meistens) verkannt wurden. Auch die Ausdrucksformen des Glaubens haben zur gegenseitigen Entfremdung beigetragen. So konnte weder die Originalität der Erfahrung der Kirchen im Ostblock rechtzeitig zu Bewußtsein der Welt gebracht werden, noch waren die Christen des Ostblocks imstande, manche Entwicklungen in der nachkonziliären Kirche im Westen verstehend nachzuvollziehen. So war es im Ostblock nicht möglich, z. B. die Faszination durch den Marxismus in einigen westlichen Ländern und in Lateinamerika zu verstehen. Das womit im Osten die Erfahrung des Bösen aufs engste verbunden war, ist in vielen Kreisen des Westens als Hoffnungsträger gedeutet worden. Das Mißverständnis betraf also etwas, was auf die Verkündung der frohen Botschaft einen unmittelbaren Einfluß hatte. Als die Kontakte einigermaßen wiederhergestellt wurden, war das gegenseitige Mißtrauen die Folge: die Ostblockchristen galten ihren Mitchristen im Westen und in Lateinamerika als konservativ oder zumindest als nicht progressiv (sozial-politisch und kirchlich) und umgekehrt erschien den Christen im Ostblock vieles als gefährlicher Ausverkauf der katholischen Substanz. Vor allem galt das Liebäugeln mit dem Marxismus als besonders unverantwortlich. Das Mißtrauen wurzelte m. E. in der mißverständlichen Deutung der Erfahrung des Bösen

Im Unterschied zum Westen und zu Lateinamerika stellte die Schicksalsgemeinschaft der Kirche mit dem unterdrückten Volk nicht das Ziel, sondern vielmehr Ausgangspunkt für die Betrachtung der Chancen der frohen Botschaft und ihrer Rolle inmitten der Gesellschaft. Im Westen und in Lateinamerika ging es - wie mir scheint - u. a. darum, die Glaubwürdigkeit der Kirche gegenüber den Armen und Unterdrückten unter Beweis zu stellen. In den Ländern des ehemaligen Ostblocks dagegen schien es darum zu gehen, die tatsächlich vorhandene Schicksalsgemeinschaft für die irdische und himmlische Zukunft fruchtbar zu machen.

Die Suche nach Glaubwürdigkeit für die Verkündigung der frohen Botschaft geschah im Westen unter den Bedingungen einer sich sehr schnell säkularisierenden Gesellschaft, die sich gegen die Strukturen der Sünde nicht zu verteidigen wußte. Der Deutungsfehler, der oft im Osten aber auch in manchen Kreisen des Westens (!) begangen wird - wodurch Voraussetzungen für schädliche Bündnisse entstehen - besteht darin, daß man den Säkularismus als Folge des Konzils sieht und daher nicht imstande ist, die innerkirchliche Entwicklung als dramatische Suche nach einer Glaubwürdigkeit zu deuten, die den kulturellen und sozialen Ursachen des Säkularismus' und den Strukturen der Sünde gewachsen wäre.

Diese Überlegungen, mit denen die Lage in der Umbruchsstunde skizziert wurde, scheinen mir notwendig, wenn man der Erfahrung der Christen (auch unseres Ordens!) in Ost und West gerecht werden und ihren jeweiligen originellen Beitrag zum Selbstverständnis des Christentums in der modernen Welt vorurteilslos einschätzen will.
 

2. Christliche Tat im Osten
 

Es war eine der Grundüberzeugungen der aufgeklärten Neuzeit, daß die christliche Religion ihrem Wesen nach eine reaktionäre, den Fortschritt hemmende Kraft sei. Davon versuchten die Kommunisten die Christen im ehemaligen Ostblock mit allen Mitteln zu überzeugen. Viele Christen im Westen wurden dadurch verunsichert.

Vor wenigen Jahren hat sich in Osteuropa etwas ereignet, was dieser Grundtendenz der Neuzeit zu widersprechen schien. Dies wird um so deutlicher, wenn wir mitbedenken, daß in den Jahrzehnten des Totalitarismus viele aufgeklärten Intellektuelle in Polen und woanders in die Falle der totalitären Versuchung gefallen sind, indem sie den Marxismus zum Erben des aufgeklärten Rationalismus' gekürt und ihn zur Erfüllung der menschlichen Hoffnungen erklärt haben. Dies geschah nicht nur in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Hier steht der westliche Intellektuelle noch vor einer ernsthaften selbstkritischen Prüfung, deren Fazit vor wenigen wochen Adam Michnik vorweggenommen hat, indem er schrieb, daß ein gewisser Typus der rationalistisch-aufgeklärten Weltanschauung sich in der Konfrontation mit dem Faschismus und mit dem Kommunismus als ohnmächtig erwiesen hat(2).

Demgegenüber erwies sich das Christentum, vor allem in seiner katholischen Prägung, als viel besser als die Erben der Aufklärung darauf vorbereitet, dem irdischen Totalitätsanspruch mächtig und wirksam zu widersprechen. Die Bedeutung dieser christlichen Tat erschöpft sich aber nicht im Widerspruch und im Widerstand. Denn die Opposition zum Marxismus war keine bloße Gegnerschaft; sie fußte auf dem Bekenntnis zu eigenen Grundwerten und nicht nur auf der Verneinung der Gegenposition. Auf Unrecht haben die Christen mit Vergebung, mit Dialogbereitschaft, mit einem klarem Verzicht auf Gewalt reagiert. Dadurch haben sie einen Stil vorgelebt, der in die Welt Maßstäbe setzte, die ihre ganze Auswirkung unter den Christen selbst noch nicht gezeigt haben. Als Folge davon war die Entfaltung dessen, was man mit Recht Solidaritätsethos genannt hat.

Auf zwei Komponenten des Solidaritätsethos möchte ich besonders hinweisen:

- einerseits auf die ganz bewußte Wahl eines gewaltfreien Weges zur Befreiung, der den Verzicht auf Rache und die grundsätzliche Vergebungsbereitschaft beinhaltete;

- und andererseits auf die grundsätzliche Offenheit der Christen für die Zusammenarbeit mit den nicht-christlich motivierten Oppositionellen.

Die Begegnung, die sich damals zwischen den liberalen Erben der Aufklärung und vielen Christen ereignete, hat es bewirkt, daß einerseits das aufklärerische Vorurteil, demnach die christliche Kirche ihrem Wesen nach eine reaktionäre Kraft sei, mächtig erschüttert und daß andererseits der unter den Christen verbreitete Verdacht, die Menschen jener kulturellen Herkunft seien Feinde, denen Moral fehlt, in Frage gestellt werden konnte. Diese Begegnung war nicht oberflächlich. Sie hat eine unerwartete Gemeinsamkeit auf den Tag gelegt und auf beiden Seiten einen besonderen Menschentypus entstehen lassen, der seine Berufung darin sieht, aus der in Zusammenarbeit und im Dialog entstandenen Gemeinsamkeit neue Grundlage des sozialen Lebens zu machen.

Die Entwicklung, die ich hier bloß skizziert habe, die noch 1989 deutlich sichtbar und Anlaß für die Hoffnungen war, scheint in den darauf folgenden 3 Jahren ihre Auswirkung verfehlt zu haben. Wenn man die Lage der Menschen heute genauer beobachtet, merkt man, daß das Solidaritätsethos immer weniger Einfluß auf die Gestalt des menschlichen Zusammenlebens hat. Es scheint, als ob die Erinnerung daran nur noch den Wert einer erbaulichen Legende oder eines Märchens hätte, das mit dem es war einmal... anfängt. Aus dem Munde der einstigen Verbündeten hört man Äußerungen gegenüber Freund und Feind, die alles andere als versöhnlich klingen und dem Solidaritätsethos offensichtlich widersprechen. Nicht nur die alten Fronten sind entflammt, sondern auch die neuen wurden eröffnet. Die zu Grabe getragene Dialektik scheint ihren späten Sieg davon zu tragen.

Wie ist das zu erklären und zu verstehen? Müssen die Ansätze, die eine versöhnte Welt zu versprechen schienen, bloß Ansätze bleiben?

Neben der Beschreibung der Lage der Menschen, die viel zur Aufhellung dieser schwieriger Fragen beitragen kann(3), ist es notwendig unsere Aufmerksamkeit auf das Christentum zu lenken, das in dieser Stunde zur Unterscheidung der Geister aufgefordert ist, damit es in Ost und West die Gestalt findet, die der Welt zum Zeichen der Gnade werden kann.
 

3. Welches Christentum?
 

Die jetzt entstandene Lage fordert uns Christen in Ost und West auf unserem eigenen Gebiet zu einer gemeinsamen Antwort heraus. Mißtrauen oder gar Verdächtigung sind mehr denn je unter uns fehl am Platz. Eine getrennte Buchführung von Ost und West ist den Herausforderungen und den neuen Möglichkeiten nicht mehr angemessen. In Ost und West sind wir gezwungen nach dem Christentum zu fragen, ob es nur dazu gut ist, den Widerstand zu motivieren, d. h. Zeichen des Widerspruchs zu sein, oder darüber hinaus ob es auch dazu fähig ist, die Identitätsfindung der Menschen inmitten der Welt so zu orientieren, daß eine dialogische Gemeinschaft sich entfalten kann. Man ist versucht auf diese Frage eine schnelle Antwort zu geben: Selbstverständlich, das Christentum ist mehr als Zeichen des Widerspruchs. Es ist auch Bejahung der Schöpfung; es ist dialogische Versöhnungs- und Verständigungsbereitschaft. Das Christentum existiert aber nicht abstrakt als ens mentis, sondern geschichtlich und wird von der Geschichte, die es beeinflußen will, ihrerseits beeinflußt. Dank des Spiegels, den wir füreinander sein können, haben wir jetzt inmitten der geschichtlichen Umwälzungen die einmalige Chance, die negativen Einflüße in ganzer Ehrlichkeit wahrzunehmen. Wir im Osten verstehen es langsam, daß es uns nach den Wunden des Totalitarismus' gar nicht leicht ist, z. B. unseren Beitrag zur Versöhnung zu leisten. Sie im Westen können z. B. den Prozeß der mutigen Auseinandersetzung mit dem Säkularismus durch eine selbstkritische Läuterung eigener Präsenz in der Welt aus Rücksicht auf die Originalität der christlichen Botschaft und auf die Einheit ergänzen. Damit kann gemeint werden, was der Philosoph Koakowski so beschrieben hat: Das Christentum unseres Jahrhunderts lebt so sehr in Angst vor der aufklärerischen Kritik, daß es zumindest in der öffentlichen Lehrarbeit nicht mehr den Mut aufbringt, zahlreiche seiner Wesensbestandteile, die mit der Moderne deutlich zerstritten sind, zu präsentieren; oder auch etwas, was uns im Osten hellhörig macht, wenn wir von Vertretern der Religionssoziologie hören, daß z. B. die kirchliche Sozial- und Schularbeit in der BRD ein gesellschaftliches Teilsystem darstellt, das unabhängig von der Motivation (d.h. unabhängig vom Glauben - A. d. V.) der Mitglieder (und Mitarbeiter) Leistungen erbringt.(4)

Sehen wir nun näher an, wie sich einerseits der totalitäre Druck und andererseits die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus auf die Galaubensweise der Christen ausgewirkt haben.

Wie schon erwähnt, war die Erfahrung des Lebens unter der totalitären Herrschaft des Kommunismus für Einzelne und Gemeinden eine nicht zu verharmlosende Erfahrung des Bösen. Der Totalitarismus hat das böse Gesicht der Welt gezeigt, vor allem das böse Gesicht der Mitmenschen. Der Nächste könnte jemand sein, der Spitzel und Verräter ist. Zugleich aber stellte sich der Totalitarismus als eine Parodie der heilbringenden Religion dar. In seiner Ideologie bestätigte er die Bosheit der Welt und bot die Befreiung von dem Bösen an, d. h. die Aufhebung der bedrohenden Differenzen in einem Kollektiv. Der Weg zu diesem Kollektiv war der revolutionäre Terror.

In den Christen des Westens lebte die Erfahrung des Bösen nicht nur als Erinnerung an Faschismus und an Kriege dieses Jahrhunderts. Sie sahen das böse Gesicht der Welt auch in verschiedenen strukturellen Formen der Versklavung und der Ungerechtigkeit. Sie sahen sich als Gläubige einer verlängerten, radikalen Kritik ausgesetzt, die sie und ihre Wertvorstellung kulturell marginalisierte. Viele erlebten dabei schmerzhaft Versäumnisse und Sünden ihrer Kirche.

Als Antwort auf diese Erfahrung des Bösen versuchten die Christen ihre eigene Identität zu definieren und in eine geschichtlich wirksame Rolle umzusetzen. Diese Antwort scheint in drei Richtungen(5) zu gehen.

Erste Richtung ist durch das starke Bewußtsein der Bosheit der geschichtlichen Welt gekennzeichnet. Für die einen ist sie unverändert geblieben, trotz des Zusammenbruchs des Totalitarismus'. Für die anderen entfaltete das Böse seine Kraft so deutlich, daß es sogar den Weinberg des Herrn verwüstete. Deshalb ist sowohl für die einen als auch für die anderen die Freiheit der Menschen eher ein Risiko als eine Chance. Sie soll lediglich dazu dienen, sich in die eng gefaßte Gemeinschaft der Erlösten - die Kirche - einzureihen und ihren Weisungen zu folgen. Außerhalb dieses heiligen Kreises einer spezifisch verstandenen Kirche ist alles verdächtigt, alles bedrohlich. Nichts ist echt: Kryptokommunisten oder andere gottlose Menschen, versteckte Feinde sind überall, womöglich sogar in eigenen Reihen. Dieses wahrhaft neomanichäische Christentumsverständnis hat freilich seine politische Verlängerung. Im politischen Kampf findet diese Welt- und Menschensicht ihre praktische Anwendung, die das Christentum um seine Zeugniskraft bringt. Das Evangelium wird hier keine frohe und froh machende Botschaft, sondern geradezu eine schlechte Botschaft: das Wort der Verdammung.

Eine zweite Richtung ist durch die Reduktion des christlichen Glaubens auf seine soziale Funktion gekennzeichnet. Den Kommunisten ist die Verstaatlichung des Glaubens und der kirchlichen Gemeinschaft nicht gelungen. Der Glaube ist aber Verbündeter der Opposition geworden. Die Erfüllung seiner sozialen Rolle in der Opposition hat die Erwartung geweckt, die Religion könne bei der Neuordnung sozial und politisch nützlich gemacht werden. Die Erfahrung der sozialen Ungerechtigkeit, so charakteristisch für die westliche Sensibilität, hat dazu beigetragen, daß die soziale Dimension des Glaubens als seine wesentliche Dimension entdeckt wurde. Zugleich aber geschah etwas ähnliches wie jetzt im Osten: eine Reduktion des Glaubens auf seine politische und soziale Funktion. So erklärt sich eine im Osten wie im Westen wirksame Erwartung, daß die sichtbare Kirche als politische Kraft auftritt und sich zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen zur Unterstützung der Reformen bzw. zur Unterstützung dieser oder jener politischen Richtung äußert. Ihre eigentliche religiöse Sendung tritt da in den Hintergrund und wird gewissermassen zur Gelegenheit für die Erfüllung ihrer sozialen Funktion. Die Religion riskiert hier zum Werkzeug und zum Mittel der Politik, reduziert zu werden. Der Christ wird zum Aktivist. Die Kirche steht da in einer sehr unbequemen Position: äußert sie sich, wird sie durch die einen prompt vereinnahmt und durch die anderen eifrig der Einmischung bezichtigt; äußert sie sich nicht, wird ihr Schweigen von allen ausgenützt. Der sozialen Reduktion der Religion gegenüber steht die Versuchung der Kirche (vor allem in Osteuropa), sich der politischen Einflußnahme für die religiösen Zwecke zu bedienen. Als Reaktion auf diese beiden Haltungen wird die alte Parole laut, daß Religion Privatsache bleiben soll.

Die dritte Richtung, in die sich das christliche Bewußtsein entwickelt, ist durch die Einsicht in die Notwendigkeit der neuen Evangelisierung bestimmt. Diese Einsicht entspringt nicht der Wahrnehmung des Einflußverlustes des Christentums, sondern der Wahrnehmung der Schäden, die der Totalitarismus im Osten und der Säkularismus im Westen in der christlichen (menschlichen) Seele eingerichtet hat. Der christliche Glaube soll sich aus seiner Quelle erneuern, damit er fähig wird Salz der Erde, Licht der Welt, frohe und frohmachende Botschaft für die Welt zu sein. Es geht also nicht um die Wiedergewinnung des verlorenen Einflusses, sondern um einen unentbehrlichen, uneigennützigen Dienst, der die Motive des Lebens und der Hoffnung erneuert und stärkt, in einer Welt, die daran mangelt. Die persönliche, nicht-konformistische Entscheidung wird da gerade gefordert. Mir scheint es, daß der Aufruf des heiligen Vaters zur neuen Evangelisierung vor diesem Hintergrund besser verstanden werden kann.

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Die Seele der Welt ist krank. Das ist keine neomanichäische Hiobsbotschaft! Das ist eine demütige Wahrnehmung, die den Christenmenschen auch betrifft. Auf ihrer Grundlage ergeht an die freien Menschen ein ehrliches Wort von der Liebe Gottes, die durch Jesus Christus in die Welt Hoffnung einpflanzte, daß Menschen füreinander Brüder und Schwester sein können. Der Christ weiß sich in seiner Wahrnehmung nicht alleine. Die ehrlichen Erben der Aufklärung geben sie auch zu und revidieren ihre Utopien. Sie gestehen ihre Angst vor einer Welt, in der alles ethisch neutral sei. Sie erkennen, daß die Würde des Menschen und seine Freiheit durch den Glauben an Gott nicht gemindert sondern vor Koniunkturalismus und Unterjohung wirksam geschützt werden können. Christ und der Erbe der Aufklärung bedrohen einander nicht mehr. Das, in Ansätzen, scheint die Lehre dieser geschichtlichen Stunde zu sein. Wir können anfangen, gemeinsam die Epoche zu schließen, die mit der französischen Revolution angefangen hat. Eine neue Oktoberrevolution dürfte für niemanden mehr eine Hoffnung sein. Deshalb ist es für alle wichtiger denn je, daß es lebendige Kirche gibt, die es wagt, die ewige Erlösung zu verkünden und ihr entgegen zu leben.

1. Der kommunistische Machtanspruch erstreckte sich nicht nur auf die Verwaltung und Wirtschaft sondern vor allem auf die Seele und das Gewissen der Völker. Die «wissenschaftliche Weltanschauung» sollte die Religion ersetzen, die inzwischen - bis es soweit ist - in die Privatsphäre zurückgedrängt wurde. Diese Privatisierung der Religion bestimmte die Aufgaben der Kirche und des Ordens. Die junge Generation war die größte Sorge. Das Christentum sollte den Jugendlichen als ein Überbleibsel aus dem Mittelalter erscheinen. Die Zensur verhinderte wirksam, daß alles, was irgendwie christlich geprägt war, als modern und fortschrittlich in Erscheinung treten könnte. Christlich, bzw. katholisch sollte Synonym von rückständig werden. Es sollte also in der jungen Generation ein kultureller Minderwertigkeitskomplex erzeugt werden. Die kulturelle Fruchtbarkeit und Lebendigkeit des Christentums in der modernen Welt durfte nicht in Erscheinung treten. Neben dem Versuch, das Christentum ganz zu privatisieren, war die Tendenz zur Nationalisierung (Verstaatlichung) der Kirche am Werke. Die Kirche sollte von Rom getrennt und der Politik der Partei, als ihr Werkzeug, unterordnet werden. Diesem Zweck dienten sowohl die Versuche die Bischöfe vom Klerus und von der Basis zu isolieren als auch den normalen Kontakt mit Rom und mit der Weltkirche zu verhindern. Zum Zwecke der Nationalisierung der Kirche bevorzugte man auch einige Priester- und Laienorganisationen, die von der Staatsmacht gesteuert waren. Das und die ständige Überwachung der Aktivitäten der Kirche bei der gleichzeitigen Einschüchterung der Laien führte zu einer relativ starken Klerikalisierung der Kirche.

Man kann sagen, daß die hier skizzierten Tendenzen und Maßnahmen im großen und ganzen nicht zum gewünschten Erfolg geführt haben. Dennoch blieben sie nicht ohne positive und negative Auswirkung auf die Kirche.

2. Koció³ - prawica - monolog albo ludzie podwójnego wyzwania, in: Gazeta Wyborcza vom 27. und 28. März 1993, S. 13

3. Um diese Fragen beantworten zu können, ohne gegenüber den hart geprüften Menschen ungerecht zu werden, müßte die Lage der Menschen genauer beschrieben werden. Ich verweise auf Zwei meine Artikel: Fede e giustizia. Le sfide ai cristiani dell'Europa Orientale, in: La Civilta Cattolica 1991 IV 580-584 (auch deutsch, französisch und englisch in: Projekt Europa, Nr. 18, 1992); La situazione dell'uomo nell'Europa dell'Est, in: La Civilta Cattolica 1992 II 582-588.

4. Heinz-Joachim Fischer, Da wurden die Polen hellhörig. Ein nachbarschaftliches Gespräch über Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft, in: FAZ vom 6. 04. 93.

5. Die folgenden Überlegungen orientieren sich grosso modo an den Analysen von Prof. Józef Tischner, Smugi cienia czyli wiara religijna po komunizmie, in: Tygodnik Powszechny 1/1993.