Die neue rolle des Christentums in Osteuropa, w: Michael Sievernich SJ u. Johannes Beckermann (Hrsg.), Christen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Entwicklungen und Perspektiven, Verl. Josef Knecht, Frankfurt/M 2000, S. 66-79


 


Die neue Rolle des Christentums in Osteuropa(1)


1. Einige Vorbemerkungen

Keiner der Hauptbegriffe, der in der Formulierung des Themas meines Beitrags benutzt wurde, ist einfach zu definieren. Denn sowohl das Osteuropa ist hier keine blosse geographische Bezeichnung, als auch das Christentum, bezogen auf Osteuropa, ist keine leicht zu definierende Erscheinung.

Da dieses Thema in einer ganz bestimmten historischen Lage behandelt werden soll, d.h. 10 Jahre nach dem Zusammenbruch des von der Sowjetunion dominierten Ostblocks und 8 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion selber in eine Anzahl von unabhängigen Staaten, deshalb unter Osteuropa verstehen wir hier den, bislang sowjetisch dominierten Raum der ehemaligen Westrepubliken und der ebenfalls ehemaligen, teilweise aus kulturhistorischen Gründen als mitteleuropäisch zu bezeichnenden Satellitenstaaten der Sowjetunion. Gemeint sind die baltischen Staaten mit Estland, Lettland und Litauen, dann Belarus und Ukraine, und schliesslich Länder wie Polen, Tschechien, Slovakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Damit bleiben ausser Betracht andere, durch den Zerfall der Sowjetunion unmittelbar betroffene Regionen. Auch die Spezifizität der Balkanregion kann hier nicht berücksichtigt werden, obwohl enige Elemente meiner Analyse für diese Region (z. B. für Kroatien und für Slovenien) wahrscheinlich zutreffen.

Da es in diesem Vortrag um die Bestimmung der neuen Rolle des Christentums gehen soll, müssen einerseits seine traditionellen Formen und Rollen berücksichtigt und andererseits seine erstrebenswerte Entwicklung umrissen werden. Es darf dabei auf keinen Fall vergessen werden, dass das Christentum unter den Völkern Osteuropas sehr tief verwurzelt ist, was manchmal in Formen zum vorschein kommt, die beim westlichen Beobachter auf Unverständnis stossen können. Deshalb muss das Verstehenwollen dem Verändernwollen vorausgehen. Wenn ein Austausch zwischen Christen aus Ost- und Westeuropa(2), der für beide Seiten fruchtbar ist, stattfinden soll, dann darf man nicht vergessen, dass das Christentum in Osteuropa zum Teil ganz andere Erfahrungen durchgemacht hat, als das im Westen der Fall war, nicht zuletzt im Hinblick auf das Leben unter den Bedingungen einer liberalen, demokratischen Gesellschaft. Diese letztere Erfahrung ist für die Gesellschaften Osteuropas etwas ganz neues. Die Zeit der kommunistischen Herrschaft war für die meisten Völker nicht einmal die längste Periode der Unfreiheit.

Meine Ausführungen sind als die eines beteiligten Beobachters zu verstehen, dem einerseits die Analyse der Veränderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht ganz fremd ist und der andererseits durch seine Verantwortung als Jesuitenprovinzial in einem dieser Länder auch versuchen soll, den Lauf der Dinge nicht nur zu verstehen, sondern auch zu beeinflüssen(3).
 

2. Die alte Rolle des Christentums in Osteuropa

Der osteuropäische Raum - insofern wir ihn als eine gewisse Einheit betrachten - ungeachtet der unübersehbaren Unterschiede der historischen Entwicklungen der einzelnen Völker, verdankt seine charekteristischen, gemeinsamen Züge einigen historisch relevanten Erfahrungen und ihren Folgen(4), deren Gemeinsamkeit auf Grund der geopolitischen Lage - vor allem im 20. Jahrhundert - relativ deutlich zum Vorschein kam.

Im Zusammenhang unseres Themas muss zunächst die Erfahrung der im Vergleich mit Westeuropa späten Christianisierung (zwischen 9. und 15. Jahrhundert) angesprochen werden. Der spätere Eintritt in den Kreis der mittelalterlichen christianitas brachte diese Völker in die zum Teil unbequeme Lage derer, die in vielen Bereichen des Lebens von anderen Völkern lernen - sprich: übernehmen - mussten. Es ging freilich nicht nur um die Übernahme des Glaubens, sonder auch des Kulturerbes, der Formen des Zusammenlebens, der Rechtsauffassung usw. Die im Bezug auf die Übernahme des Christentums "jügeren" Völker lebten die Spannung zwischen der Nachahmung der fremden Entwicklungsmodelle und dem Wunsch nach eigenständigem Ausdruck des christlichen Glaubens und des gesellschaftlichen Lebens. Trotz der gelungenen, eigenständigen Synthesen (vor allem im 15. Jh. in Polen und Ungarn) ist die ganze kulturelle und soziale Entwicklung Osteuropas durch die Antinomie zwischen dem Wunsch nach der originell heimischen Entwicklungen und dem Streben nach der Anpassung an die Hauptströmungen Westeuropas gekennzeichnet. Diese Spannung bestimmt bis heute die Diskussionen über politisch, sozial und religiös relevanten Prozesse und ist nicht ganz frei von Minderwertigkeitskomplexen bei den einen und von der Naivität bei den anderen.

Eine weitere Erfahrung, die auch eine nicht zu umgehende Spannung in sich enthält, ist die Erfahrung einerseits antemurale christianitatis (das Bollwerk des Christentums) und andererseits das Grenzland zu sein. Vom Standpunkt des Westens, der nach dem Sieg über den Islam nicht mehr von aussereuropäischen Kräften bedroht war, ist diese Erfahrung schwer nachvollziehbar. Den katholischen unter den Völkern Osteuropas dagegen, die den mongolischen zunächst und dann den türkischen Drang nach Westen lange auszuhalten hatten, und praktisch von Anfang an durch die Grenze zur Ortodoxie geprägt waren, wurde einerseits die Rolle des Grenzlandes, wo die sich gegenseitig relativierenden religiösen und kulturellen Lebensformen das Zusammenleben suchten und andererseits die des Bollwerks zuteil; ein Widerspruch, für den es keine einfache Lösung gab und der manchmal zu scharften Konflikten führte, vor allem dann, wenn die politischen Interessen im Spiel waren.

Eine dritte Gemeinsamkeit, die sicherlich auch mit der Verspätung in der wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas zusammenhängt, ist die Erfahrung der Stabilität jener Kulturformen, die durch die rurale Welt erzeugt wurden. Es scheint, dass die rurale Welt u. a. deshalb so lange und so grosse Bedeutung - ungeachtet deren zunehmenden wirtschaftlichen Rückständigkeit - erhalten hat, weil sie unter den Bedingungen der schwierigen Konflikte den besseren Schutz gegen die fremden Einflüsse und nicht selten gegen die Verfolgung geboten hat. Dem Kommunismus, der die Industrialisierung forciert hat, gelang es nicht, diese Mentalität wesentlich zu verändern. Er hat sie geradezu herausgefordert und dadurch noch verstärkt.

Eine vierte - vielleicht die wichtigste - Gemeinsamkeit, deren Nachwirkungen nicht zu unterschätzen sind, besteht darin, dass im Gegensatz zu Westeuropa überall in Osteuropa die Prozesse des Entstehens der Nationen unter den Bedingungen der mangelnden Suverenität der Völker verlaufen sind. Unter diesen Bedingungen konnte sich die moderne Zivilgesellschaft kaum ausformen. Wohl aber die Nationalismen, deren Auseinander- und Gegeneinanderstreben die kulturelle Desintegration der ganzen Region und später auch die politische Instabilität zur Folge hatte. Das Fehlen der Suverenität und der stark ausgeprägte Kampfwille um die Freiheit, haben das geistige Klima der Völker, ihre Hierarchie der Werte und ihre Verhaltensmuster massgebend beeinflusst. Die andauernde Notwendigkeit der Verteidigung der eigenen kulturellen und religiösen Werte, der individuellen und kollektiven Rechte und der nationalen Würde liess um diese Sachkomplexe Empfindlichkeiten entstehen, die für eine harmonische Entwicklung des Zusammenlebens mit den Nachbarvölkern nicht gerade fördernd waren. Die Gewohnheit, eigene Kultur als von anderen unabhängig und autonom zu pflegen und die Überzeugung, sie sei von allen Seiten bedroht, wirft einen langen Schatten auf die Politik, die oft von negativen Stereotypen behaftet bleibt und erzeugt eine kämpferische Mentalität, in der die Grenze zwischen Verteidigung und Aggression leider sehr unscharf bleibt.

Unter den Bedingungen der politischen Abhängigkeit und Unfreiheit kam auch dem Christentum eine ganz andere Rolle zu. Unter der politischen Unterdrückung, die meistens auch eine religiöse Komponente hatte, ist es überall zur Verschmelzung der religiösen und der nationalen Elemente gekommen. Überall in Osteuropa - mit Ausnahme Tschechiens - suchte das unterdrückte nationale Bewusstsein eine religiöse Stütze und Bestätigung und fand sie. Der Glaube wurde zum Glauben der Nation, zum gemeinsamen, unverzichtbaren Erbgut, nicht selten zur ersten und am meisten verbreiteten Form der nationalen Ideologie. Die Tatsache, dass sich das Christentum in seinen unterschiedlichen Prägungen sehr eifrig in den Prozess der Selbstbestimmung der Nationen Osteuropas engagiert hat, ging weder am nationalen Bewusstsein noch an dem Christentum spurlos vorbei. Das nationale Element hat durch die Religion eine Sakralisierung, das Christentum wiederum durch die Verschmelzung mit dem nationalen Element eine Ideologiesierung erfahren. Obwohl diese Entwicklung kaum den Rang einer radikalen theoretischen Konzeption erreichte und eher einen mythologischen Niederschlag fand, hat sie dennoch das kulturelle Klima mitbestimmt. Es hat dazu wesentlich beigetragen, dass die Säkularisierungsprozesse stark gehemmt waren. Die im Westen zunehmenden laizistischen Tendenzen wurden in Osteuropa weitgehend (mit Ausnahme Tschechiens und Ungarns) als etwas Fremdes empfunden und haben eher den elitären Charakter behalten. Zwischen den christlichen Kirchen und den osteuropäischen Völkern entwickelte sich in den meisten Fällen eine Art Schicksalsgemeinschaft. Die Kirchen sind zu Institutionen des gesellschaftlichen Vertrauens geworden, deren Glaubwürdigkeit ernsthaft anzutasten für die Gesellschaft sehr gefährlich sein könnte. Ähnlich wie später im Kommunismus galt es, die Glaubwürdigkeit der Kirche nicht in Frage zu stellen. Dieser unerwartete Schutz vor der Kritik, unter dem das Christentum gewissermassen gestanden ist, hat ihm wahrscheinlich zunächst genau so viel geholfen wie später geschadet, als sich unter den veränderten Bedingungen herausgestellt hat, wie schwer es ist, seine neue Rolle zu finden.

Das hier skizzierte Bild geht kaum auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern, Kirchen und Konfessionen ein. Es ist im Rahmen dieser Überlegungen nicht möglich, diese Unterschiede herauszuarbeiten. Es ist aber in diesem Rahmen auch nicht nötig, weil diesen Unterschieden m. E. keine entscheidende Bedeutung zukommt im Hinblick auf die Rolle des Christentums unter kommunistischer Herrschaft. Man kann sagen, dass mit der gewaltsamen Einführung der Diktatur des Proletariats sich für das Christentum, für das Selbstverständnis seiner Rolle unter den Völkern Osteuropas nicht viel geändert hat. Es wurde sogar eindrucksvoll in seiner Rolle bestätigt, zumal der Kommunismus den gläubigen Massen eher früher als später als Fremdkörper und als Bedrohung nicht nur der religiösen sondern auch der nationalen Identitäten erscheinen musste. Im Kommunismus hat sich die Schicksalsgemeinschaft von Gesellschaft (Nation) und Kirche bestätigt und bewährt, so dass das Christentum mit der Zeit fast in der ganzen Region zu einem der wichtigsten Faktoren des bewussten Widerstandes geworden ist. Mit der Zeit hat dieser Widerstand dazu beigetragen, dass der Kommunismus zusammengebrochen ist.

In dem Zusammenstoss mit dem Kommunismus hat das Christentum seine Rolle aus eigenem Antrieb erfüllt. Es war nicht bloss die Negation. Das Christentum hat den Menschen die Hoffnung vermittelt, das Bewusstsein der Menschenwürde und der Menschenrechte eingeschärft, den Absolutheitsanspruch der kommunistischen Ideologie mit Argumenten abgewiesen, die Rückbindung an die europäische Wertegemeinschaft gesichert... Es war Stimme der Entrechteten, Kraft der Märtyrer und der Bekenner. Es verteidigte die Freiheit und Gerechtigkeit.

Mann könnte diese Aufzählung noch verlängern. Aber nicht darum geht es in diesem Zeugnis. Wichtig ist etwas anderes, was unter dem Eindruck der Schwierigkeiten, denen die Christen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus begegnet sind, nicht vergessen werden darf. Es besteht kein Zweifel, im Widerstand gegen den Totalitätsanspruch des Kommunismus war nicht die Gegnerschaft, die Verneinung die Quelle der tragenden Kraft. Die christliche Opposition zum Marxismus fusste auf dem Bekenntnis zu eigenen Grundwerten und eigenen Grundüberzeugungen und bewies sehr eindrucksvoll, dass das Christentum seinem Wesen nach keine reaktionäre Kraft ist. Noch mehr - wenn man den Marxismus als Ausläufer der aufklärerisch-rationalistischen Tradition betrachtet - erwies sich das Christentum als wirksamer Verteidiger jener Werte, die diese Tradition gegen das Christentum zu retten glaubte. Sehr viele Christen in Osteuropa haben auf Unrecht mit Vergebung, mit Dialogbereitschaft und nicht zulezt mit klarem Verzicht auf Gewaltanwendung einen Stil vorgelebt, der auch dem Leben unter den demokratischen Bedingungen sehr hohe Ansprüche stellt.

Werden die Christen Osteuropas ihren eigenen Massstäben unter den neuen Bedingungen der pluralistischen Gesellschaft gerecht? Einfache Antwort auf diese Frage gibt es sicherlich nicht. Denn...
 

3. An der Schwelle zur Demokratie

Ungeachtet der oben skizzierten insgesamt positiven Bilanz der langen Probe auf die das Christentum in Osteuropa ausgestellt war, wurde gleich an der Schwelle zur Demokratie deutlich, dass die lange geschichtliche Erfahrung, die es den Christen in der kommunistischen Zeit gelungen ist, auf originelleWeise fruchtbar zu machen, nun ihre Grenzen gezeigt hat. In einem gewissen Sinne sind die Tugenden, Haltungen, Denkweisen, Kategorien, die den Christen bei der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus so sehr gholfen haben, in sehr kurzen Zeit kaum brauchbar geworden. Plötzlich wurde z. B. deutlich, dass das lange erfahrene und bekämpfte Unrecht, den Widerspruch zur Gewohnheit werden liess, so dass die Kirchen ihre neue Rolle eher als "Zeichen des Widerspruchs" verstanden haben. Trotz des Bewusstseins der eigenen Werte, trotz der grundsätzlichen Bejahung der demokratischen Grundordnung und des Reformkurses haben sie öfters zur Warunung vor Bedrohungen geläutet als Orientierungshilfen angeboten. Die Angst vor der Freiheit hat sich des öfteren als stärker erwiesen als der Wille zur positiven Gestaltung der Freiheitsräume. Man kann schwer des Eindrucks loswerden, dass sich die Kirche ihrer eigenen leadership nicht ganz sicher war und im Grunde Angst hatte die Mündigkeit der Christen zu fördern. Damit haben sich die Kirchen nicht selten auf die berechtigte Kritik oder auf manchen Modernisierungswunsch verschlossen. So zeigte sich auch, dass die Erfahrung des verganenen Unrechts für die Wahrnehmung der neuen Realitäten viel mehr bestimmend war als die erfahrene Vorsehung. Ein Neomanichäismus ist zur realen Versuchung geworden. Freunde und Verbündete von Gestern sind schnell als Bedrohung empfunden worden, sofern sie sich von der Kirche emanzipiert und für ihre politischen Entscheidungen Autonomie in Anspruch genommen haben. Das galt nicht nur für die Ungläubigen, sondern auch für die treuen Katholiken, die für die lieberale Entwicklung eingetretten sind. Die einverleibte Kampfsprache hat manche gesellschaftlichen Kräfte glauben lassen, dass nun das Christentum zum Hindernis für den gesellschaftlichen Dialog geworden ist. Den Bischöfen und den Priestern war es in der Tat nicht leicht die Autonomie der pluralistischen Gesellschaft zu achten(5), weil für viele in der Folge des Umbruchs die gesellschaftliche Wirklichkeit im Vergleich zur Vergangenheit unverständlich geworden ist. Angesichts der starken Bestrebungen, sich an die westliche Entwicklung schnell anzuschliessen, sind bei vielen Christen Ängste aufgetreten, die nationale und die religiöse Identität könnte sich z. B. in der EU auflösen. Die Erneuerer und die Verteidiger der traditionellen, christlichen Werte liefern sich heftige Wortschlachten, bei denen das ganze rethorische Arsenal bemüht wird, um eine angstmachende Vision entweder des klerikalen Gottes-Staates oder einer identitätslosen (sprich: gottlosen) und von Fremden beherrschten, gleichgeschalteten Gesellschaft dem Gegner anzukreiden. Jakobinisches Demokratieverständnis einerseits und national-christliche Freund-Feind Rethorik andererseits beherrschten z. B. die Debatte um die Ratifizierung des Konkordats und um die Verfassung in Polen. Die Wirtschaftlichen Fragen, wie z. B. die Privatisierung werden von dieser Dialektik nicht ausgenommen. Diese Spannung, bei der die Vision der Beteiligung des Christentums an der Gestaltung der gewonnenen Freiheit eine sehr wichtige Rolle spielt, geht nicht nur durch die Politik oder durch die Kanzel hindurch, sondern auch durch die Reihen der christlich motivierten Laien hindurch. Der aus der kommunistischen Zeit stammende Gegensatz zwischen dem politischen und beruflichen Alltag enerseits und dem privat gelebten Glauben und der kirchlichen Zugehörigkeit andererseits wirkt kräftig nach und wird nur schwer überwunden.

Kein Wunder, dass nicht nur Kritiker, sondern auch Freunde sich ernsthaft danach fragen ob die Kirchen Osteuropas ihren Standort in den neuen Demokratien gefunden haben und ob sie sich selbst einem Transformationsprozess unterziehen müssen(6). Dabei wird vor allem an die Transformation "von einer Kirche des Klerus zu einer Kirche des Volkes Gottes mit aktiven Laien, Verbänden und Bewegungen" gedacht. Es wird aber auch immer deutlicher gesehen, dass "im Hinblick auf die Gesellschaftliche Präsenz [der Kirche], ihre Katechese und ihren Religionsunterricht in den Schulen, ihre Pastoral in staatlichen Einrichtungen, ihre Angebote im Bildungs- und Sozialbereich, ihre Caritas, ihre Präsenz in öffentlichen Institutionen, ihre Studien- und Ausbildungsordnungen (...) ein Aggiornamento notwendig [ist], das in allen Transformationsländern nicht nur grosse materielle Resourcen, sondern auch Phantasie, Klugheit, Sensibilität und ganz offenkundig mehr Zeit erfordert als erwartet."(7)

Katholischerseits hat der innere Transformationsprozess der Kirchen Osteuropas in Johannes Paul II. den mächtigen, aber nicht deshalb automatisch wirksamen Fürsprecher. Das beweisen z. B. die eindringlichen Ermahnungen des Papstes an die polnischen und litauischen Bischöfe bei den Ad-Limina-Besuchen 1993 und 1998 und seine Botschaften an die Bischöfe in Polen anlässlich der Reisen in sein Heimatland 1991, 1997 und 1999. Die Kräfte der Mitte, die den gesellschaftlichen Dialog und den Weg gesellschaftlicher und kirchlicher Transformationsprozesse trotz allem begehen, finden im Papst den wichtigsten Verbündeten.

Für die Länder Osteuropas, die durch das orthodoxe Christentum geprägt sind, ist stärker die Versuchung zu spüren, sich des Staates zur Privilegierung der Ortodoxie zu Lasten der anderen christlichen Kirchen zu bedienen. Als besonders schwerwiegendes Problem der orthodox geprägten osteuropäischen Länder muss das Fehlen einer orthodoxen Sozialethik genannt werden. Dies steht durchaus in der östlichen Tradition begründet. Die Folge davon ist, dass die orthodoxen Kirchen deshalb kaum in der Lage sind, ihr Wächteramt im Bereich der sozialen und politischen Entwicklung wahrzunehmen und so zur humanisierung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen beizutragen(8).

Das hier skizzenhaft dargestellte Bild, das teilweise dem Bild einer Verwüstung nach einer Schlacht gleicht, ist Ergebnis - wie ich es zu zeigen versuchte - einer langen Entwicklung. Deshalb, wenn jetzt von der neuen Rolle des Christentums gesprochen werden soll, dann neu gegenüber der ganzen bisherigen Erfahrung und nicht nur gegenüber der kommunistischen Zeit.

Es geht im Grunde darum, die spezifische Erfahrung der Kirchen Osteuropas für das christliche selbstverständnis fruchtbar zu machen.
 

4. Die neue Rolle des Christentums

Um den spezifischen Beitrag der Christen Osteuroaps zur Bestimmung der neuen Rolle des Christentums zu erfassen, muss man über die bisherige Entwicklung hinausgehen und kritisch zwischen dem Christentum selbst und den irdischen Wurzeln der christlichen Kulturen der einzelnen Völker unterscheiden. Diese notwendige Unterscheidung darf aber nicht so verstanden werden, dass nun die nationalen Kulturen um des Christentums willens verleugnet werden müssten. Deshalb muss diese Unterscheidung, wenn sie hilfreich sein soll, von dem Verständnis für die Symbiose der christlichen und der nationalen Elemente ausgehen. Etwa so, wie es ein russisch-ortodoxer Denker Sergiej Awierincew sehr einfühlsam im April 1996 während des Symposions zum Thema "Christentum der Zukunft", anlässlich des 50. Jubiläums der Zeitschritft "Znak" in Krakau zum Ausdruck gebracht hat(9): "Glücklich ist die Nation, die im Widerspruch gegen die äussere Gewalt sich einer Motivation bedient, die dauerhaft religiöse Werte mit den nationalen Werten verbindet. In einem gewissen Sinne vereinfacht die Tragödie das Leben: wenn der Feind gegen alle Werte vorgeht, ist keine Zeit da, um sich den Kopf mit feinen Unterscheidungen zwischen ihnen [den Werten] zu zerbrechen." Awierincew fügte gleich hinzu: "Für die oppositionelle Minderheit in Russland, die weder die kommunistische Ideologie noch den sovietischen Expansionismus akzeptiert hat, war der polnische Widerspruch ein unerreichbares Modell - auch dank der Harmonie zwischen seiner religiöser und politischer Motivation." Die Lage hat sich insofern verändert - mein Awerincew - dass "unser Glaube nicht mehr einem äusserem Druck ausgesetzt ist, der von der Hauptstadt eines fremden Imperiums ausgeht, sondern gegenüber Bedrohungen steht, die ihn schon immer und überall einholen: gegenüber einem selsbstgenügsamen Säkularismus, Indifferentismus, gegenüber der Angst vor den Forderungen des religiösen Gewissens, gegenüber dem versteckten, aber immer noch äusserst starken Hang zum Nichts und schliesslich gegenüber all dem, was der Papst Johannes Paul II. als 'Kultur des Todes' bezeichnet..." Die Welt hört also auf, primär national und konfessionell aufgeteilt zu sein und in diesem Sinne hört sie auf, christliche Welt zu sein. Sie wird wieder einfach Welt - theologisch gesprochen - saeculum, Ort der freien Entscheidung für oder gegen die christliche Hoffnung; ein Ort also, wo man Christ werden kann, in den man aber immer seltener als Christ hineingeboren wird. Die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstandene Lage macht vielen auf eine manchmal schmerzhafte Weise deutlich, dass unser Glaube seine Lebendigkeit nicht der irdischen Verwurzellung in irgendeiner vergänglicher Kultur verdankt, sondern seiner Herkunft von Oben. Keine nationale Kultur, kein christlicher Staat, keine christliche Welt kann dem christlichen Glauben einen Schutz anbieten. Die Stärke des Christentums wird nicht mehr an der Stärke der christlichen Institutionen gemessen.

Eine der wichtigsten Konsequenzen des Zusammenbruchs des Kommunismus für die Christen in Osteuropa ist die Einsicht in die Erschöpfung jener Form des Christentums, deren Stütze und Stärke leztendlich der Konformismus der Individuen und der Gruppen gegbenüber einer Welt war, wo das Christsein beinahe zur nationalen Pflicht wurde. Dass im Falle Osteuropas der Druck ein Druck von aussen war, der dem Christentum geholfen hat, seine Stärken zu zeigen, unterstreicht nun um so mehr die Notwendigkeit, die innere Kraft des Christentums zu entfalten. Und diese Entfaltung kann nicht darin bestehen, eine wie immer in der Vergangenheit bewährte Form der christlichen Welt mit allen Mitteln am Leben zu halten. Es vergehen verschiedene historische Formen der Symbiose des Christentums mit dieser Welt, indem sie immer weniger fruchtbar werden sowohl im kulturellen als ach im religiösen Sinn. Es gilt zu sehen, dass dieser Prozess für das Christentum viel mehr positive als negative Seiten hat. Das Christentum gewinnt ja seine prophetische Freiheit, Lebendigkeit des Sauerteigs, Aussagekraft des Zeichens. Seine Stärke wird wieder die Bekehrung des Herzens des freien Meschen sein, dem die Liebe Gottes begegnet ist. Un die Welt, was hat sie zu gewinnen? Die Chance, der Liebe Gottes zu begegnen in Gestalt der Zeugen der Hoffnung. Freilich, wird das Christentum der Zukunft kein Gebilde ohne Gedächtnis an die Zeit der Symbiose. Es kann der Welt mit der Erfahrung dienen, die es dabei gewonnen hat. Diese Erfahrung enthält ja ein sehr tiefes Wissen über die Welt und über ihre Kondition. Dank dieses Wissens, das im Grunde der ernsthaften Gewissenserforschung entspringt, in dem das Christentum selbst im Lichte des Evangeliums seine eigene Blindheit und Sünde entdeckt, vor allem seine Teilhabe an der Rechtferigung der historischen Fehler der christlichen Welt, kann das Christentum einen demütigen Dienst an der Welt tun, den die Welt unbedingt braucht, wenn sie ihre Dekadenz und ihre Ungerechtigkeiten überwinden soll, wenn die Menschen an der Hoffnungslosigkeit nicht untergehen sollen. Die neue Rolle des Christentum, die sich hier abzeichnet, ist keine bequeme, denn sie beinhaltet eine Zurückhaltung bei der Christianisierung der Welt trotz des klaren Bekenntnisses, dass es in keinem Namen die Erlösung gibt, ausser im Namen Jesu Christi.

Das führt uns zur Frage nach der Kirche. Was hat die Kirche an der allmählichen Auflösung der christlichen Welt zu gewinnen? Die Antwort ist einfach und kompliziert zugleich. Einfach, weil man wahrheitsgemäss sagen kann: die Kirche hat daran ihre Freiheit und ihre Glaubwürdigkeit zu gewinnen; kompliziert, weil damit wenig gesagt wird über das Wie. Spannungen und negative Erscheinungen, die die Auflösung mancher Erscheinungsformen dieser Symbiose begleiten, unterstreichen nur den Ernst der Lage, wo das Kind mit dem schmutzigen Wasser weggeschwommen werden kann, wenn man es sich zu leicht macht. Mir scheint es, dass Johannes Paul II. ein sehr wichtiges Kriterium nannte, um das Wie dieser Auflösung so zu gestalten, dass dabei nicht so sehr die Kirche sondern vor allem der Mensch nicht zum Verlierer wird. Dieses Kriterium brachte er in einer knappen Formel zum Ausdruck, als er bereits in seiner ersten Enzyklika Redemptor hominis (N. 14) schrieb und später oft wiederholte, dass der Mensch der erste und grundlegende Weg der Kirche ist. In dieser päpstlichen Formel vom Menschen, der der Weg der Kirche ist, zieht Johannes Paus II. die Schlussfolgerung aus den Erfahrungen, wo die Kirche versucht hat sich selbst als den Weg für die Menschen aufzuzwingen. Dies war keineswegs die Situation der einmaligen Versuchung bzw. Verfehlung, sondern vielmehr eine dauerhafte Form des kirchlichen Selbstverständnisses, das sich in der Praxis der Christianisierung der Welt niedergeschlagen hat. Die Kirche, die sich als Weg für die Menschen verstanden hat, versuchte die Welt so zu christianisieren, dass sich niemand ihrem bestimmenden Einfluss entziehen könnte. Diese Zeit scheint vor unseren Augen zu Ende zu gehen. Die päpstliche Formel deutet nicht nur den Umbruch, sondern auch das Wie seiner seiner Gestaltung, damit die Menschen unserer und der künftigen Zeit der frohen Botschaft in Freiheit und auf glaubwürdige Weise begegnen dürfen. Die alte, von Tertulian formulierte Wahrheit "fiunt, non nascuntur Christiani" gewinnt auch in Osteuropa an Schärfe. Da das fiunt den Akt der freien Selbstbestimmung als Antwort auf die Gnade und nicht das Ergebnis irgendwelcher soziotechnischen Aktivitäten meint, hat die Kirche ihren Meister und Herr zu folgen, der sich erniedrigt hat (vgl. Phil 2, 80) und in allem uns gleich geworden ist, ausser der Sünde (vgl. Hbr 4, 15).

1. Vortrag gehalten am 15. Dez. 1999 in Sankt Georgen, Frankfurt, im Rahmen der Ringvorlesung der Rupert-Mayer-Lectures: Christentum an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Entwicklungen und Perspektiven.

2. 1 Der Papst hat anlässlich der 1. Bischofssynode für Europa 1991 davon gesprochen, dass der Osten dem Westen die Lebendigkeit seiner Glaubenserfahrung und der Westen dem Osten seine Erfahrung des Konzils weitergeben soll.

3. 2 Es gibt schon eine beachtliche Literatur vor allem zur Problematik der Rolle der katholischen Kirche in einigen Ländern Osteuropas, insbesondere in Polen, wo die für Osteuropa charakteristischen Probleme vielleicht am schärfsten zu sehen sind. Es sei hier auf einige Veröffentlichungen hingewiesen: Manfred Spieker (Hrsg.), Vom Sozialismus zum demokratischen Rechtsstaat. Der Beitrag de katholischen Soziallehre zu den Transformationsprozessen in Polen und in der ehemaligen DDR, Verl. F. Schöningh, Paderborn-München-Wien-Zürich 1992; ders. (Hrsg.), Nach der Wende: Kirche und Gesellschaft in Polen und in Ostdeutschland. Sozialethische Probleme der Transformationsprozesse, Verl. F. Schöningh, Paderborn-München-Wien-Zürich 1995; Ewa Kobyliñska u. Andrzej Lawaty, Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft. Polnische und deutsche Erfahrungen, Harrassowitz Verl., Wiesbaden 1994; Theo Mechtenberg, Trendwende oder Zerreißprobe?, in: Orientierung 62(1998), S. 25-27 u. 46-48.

4. 3 Hier folge ich insbesondere den Ansichten des Historikers Bogdan Cywiñski, der in seinem Buch Ogniem próbowane, 1. Bd.: Korzenie to¿samo¶ci (Rom 1982) versucht hat, der Frage nachzugehen, wie die katholische Kirche in den Ländern Osteuropas auf den Zusammenstoß mit dem Kommunismus vorbereitet war.

5. 4 So Kard. F. Macharski in seiner Ansprache vor dem Papst während des Ad-limina-Besuches einer Gruppe der polnischen Bischöffe im Februar 1998.

6. 5 Vgl. Manfred Spieker, Mittel- und Osteuropa im Aufbruch. Eine Zwischenbilanz. Nr. 250 Kirche und Gesellschaft. Hrsgg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach 1998, s. 11.

7. 6 Ebenda S. 12.

8. 7 Vgl. Manfred Spieker, Der Transformationsprozess in Polen - von aussen gesehen. Vortrag beim Symposion in der Philosophischen Fakultät der Jesuiten in Krakau am 29. Mai 1999.

9. 8 S. Awerincew, Sytuacja obecna w perspektywie chrze¶cijañskiej, in: Znak 493/1996, S. 15.